Nach anstrengenden Fahrtagen in den steilen und abgelegenen Tälern Perus mit seinen gewaltigen Gletscherriesen und abenteuerlichen Passüberquerungen erreichten wir endlich wieder die Pazifikküste und somit mein achtunddreissigstes Land - Ecuador. Hier waren Ferien in den Ferien angesagt. Wir flogen auf die Galápagos, einer Inselgruppe mit einer einzigartigen Natur, wo die Tiere quasi angstfrei leben, sodass man ihn sowohl im Wasser als auch an Land aussergewöhnlich nahe kommt. Es war ein unvergleichliches Gefühl, Seelöwen, Land- und Meeresschildkröten, verschiedenen Iguanas und vielen Arten von Vögeln hautnah zu erleben. Wir waren sieben Tage unterwegs auf einem Boot, für einmal kurzfristig pauschal gebucht.
Jetzt fehlt noch ein Teil bis zum grossen, ultimativen Flosstrip Richtung Amazonas und Brasilien, in drei Wochen sollten wir mit dem Bau des Flosses beginnen...
In den letzten Tagen war das beklemmende Gefühl, das man auf Reisen manchmal hat, häufiger als auch schon, wenn man beobachtet, unter welchen Umständen die Menschen hier um ihr Überleben kämpfen, wie ältere Herren auf der Strasse kleine Tüten mit Popkorn verkaufen, kleine Jungs im Schulalter auf dem Zentralplatz ihre Dienste als Schuhputzer anbieten, alte, vom Leben gezeichnete Frauen am Strassenrand versuchen, Kräuter zu verkaufen oder junge Mädchen, manchmal noch mit einem Kleinkind auf dem Rücken, mit ihren Alpacas und Schafen dick eingepackt unterwegs zu einer Weide sind, die vielleicht etwas mehr Futter hergibt. Da fragt man sich jeweils, was in Gottes Willen man als gut betuchter Spasstourist nur in dieser Gegend zu suchen hat, und es ist dann nicht erstaunlich, wenn einem ein Fotowunsch abgeschlagen wird. Die materiellen Unterschiede sind in Huancavelica besonders augenfällig, weil Armut und vermeintlich besseres Leben mit modernen Geschäften, in denen die neusten Mobiltelefone verkauft werden, Hand in Hand gehen.
Noch krasser war der Unterschied in Huancayo, das ich um die Mittagszeit erreichte. Sam hatte hier einen interessanten Aufenthalt. Er wurde von einem motorradverrückten Einheimischen noch auf der Strasse abgefangen und zu sich nach Hause eingeladen. Genau hierhin fuhr ich also und erhielt ebenfalls Einblick in eine peruanische Familie des Mittelstandes, typischerweise mit zwei Kindern auf einem recht grossen Grundstück mitten in dieser Grossstadt wohnend. Eigentlich hielt uns nur noch etwas in dieser Grossstadt, nämlich das DHL-Büro, wo wir unsere neuen Postcards erwarten, die aber auch heute noch nicht angekommen sind. Nach langem Hin und Her schafften wir es, dass uns die Karten nach Piura in den Norden des Landes nachgeschickt werden, wenn sie dann endlich in Huancayo angekommen sind. Die Unterschiede in dieser Stadt sind noch grösser als in Huancavelica. Wir besuchten eine grosse Einkaufs-Mall mit verschiedenen Boutiquen westlichen Standards, einem McDonalds und einem Supermarkt, wie wir ihn in diesem Land noch nicht gesehen haben. Natürlich war es sehr angenehm, die Vorräte hier aufzustocken, zwar wieder einmal etwas mehr zu bezahlen, dafür zum Beispiel spanischen Chorizo zu finden. Wir waren die einzigen Touristen in diesem Luxustempel, und es war offenkundig, dass sich auch viele Einheimische Artikel aus solchen Geschäften leisten können. Das schlechte Gewissen liess hier augenblicklich nach, vielleicht ist es hier auch einfacher, die grossen Unterschiede zu verdrängen, aber tatsächlich liegt es wohl nicht an uns, diese zu beseitigen oder zumindest zu versuchen, wenigstens für etwas Ausgleich zu sorgen.
Erst um halb fünf Uhr hatten wir alle nötigen Besorgungen gemacht und versuchten, dem abendlichen Verkehrschaos der geschäftigen Stadt zu entkommen. Nur 37 km weit wollten wir noch kommen, wir peilten einen iOverlander-Campingspot an, den wir kurz vor dem Einnachten auch erreichten. Natürlich fuhren wir noch etwas weiter hinunter zum Fluss, wo wir auf einer abgelegenen Wiese unsere Zelte aufschlugen, sogar noch einen abgestorbenen Baum fanden, dessen Äste sich bestens verbrennen liessen. Wir hatten uns am Feuer einiges zu erzählen. Sam war guter Laune und kam aus dem Erzählen nicht mehr heraus, aber seine Haltung hatte sich nicht verändert, doch etwas allmählicher als ich die Schweiz zu erreichen. Wir werden deshalb wohl nur den südlichen Teil Kolumbiens bereisen, um dann in Peru mit unserem Flosstrip zu starten.
Heute Morgen in Huancavelica war es bewölkt und unangenehm kalt, es war höchste Zeit, diese etwas armselige Stadt zu verlassen. Auf guten Strassen ging es bald bergauf, ich passierte einige ärmliche Dörfer und war bald wieder über 4000 m.ü.M. In Izcuchaca machte ich einen Halt und staunte über das spezielle, alte, sehr hoch gebaute, altspanische Brückenhäuschen. Die ersten 140 km Tagesfahrt waren aber angenehm schnell geschafft, und ich erreichte Huancayo um die Mittagszeit.
Km: 76‘940 (183)
In der Nacht war es immer wieder leicht am Nieseln, es war wohl deshalb weniger kalt als erwartet. Es ist ein herrliches Gefühl, sich im warmen Schlafsack mit all den wärmenden Kleidern darüber zu verkriechen, wenn es so beruhigend nett an das immer noch perfekt wasserdichte Aussenzelt tröpfelt. Auch um sieben Uhr morgens regnete es noch leicht, aber dann hörte es glücklicherweise auf, und als ich aufstand, waren schon blaue Flecken am Himmel zu sehen, und bald half die Sonne, das tropfnasse Zelt abzutrocknen.
Wir wollten heute einen möglichst grossen Schritt nach Nordwesten machen, aber auf Südamerikas Strassen weiss man nie so genau, was einen erwartet. Heute sollten wir aber fast durchwegs von gut ausgebauten Routen verwöhnt werden. Ab Jauja stieg die Strasse an. Je höher wir aufstiegen, desto weiter sah man auf entfernte Berge oder pastellfarbene, mit Steinmäuerchen abgetrennten Felder der Einheimischen. Auf über 4000 m.ü.M. war es gewohnt kalt, aber jetzt fuhren wir hinab in ein weiteres Tal. An den steilen Hängen werden die terrassierten Felder wunderbar bewässert. Schon seit Jahrhunderten verwendet man eine ausgeklügelte Kanaltechnik, in dem von Bächen Wasser abgezweigt und nach Bedarf auf die Felder geleitet wird. Tarma war eine überraschend grosse und milde Stadt auf dem Talgrund. Hier kaufte ich eine besondere Spezialität – weissen Manjar, einen caramelisierten Brotaufstrich, äusserst lecker.
Aber dann führte die Strasse wieder steil bergauf zum nächsten Pass, der aber keine andere Seite zu haben schien, denn wir erreichten eine weite Hochebene. Wir wähnten uns gleichsam im Himmel, die Wolken lagen tief, in der Ferne waren gezackte Spitzen der peruanischen Anden auszumachen. Wir beobachteten beim Mittagslunch zwei Traktoren, wie sie versuchten, das angezündete Grasfeld im Zaum zu halten, indem sie Gräben in die Hänge zogen. Es war uns allerdings nicht klar, warum das Feld angezündet wurde. Was soll nur auf 4100 m.ü.M. angepflanzt werden?
Es war überraschend, dass auf dieser Höhe immer wieder rabenschwarze Wolken über das Land zogen und Schauer auslösten. Aber wir hatten Glück, dass die Strasse immer die Richtung der nächsten Aufhellung nahm. Wir passierten die Laguna Junin und eine unwirtliche und kühle Hochandenregion, die überraschend dicht besiedelt ist. Und dann erreichten wir die Minenstadt Cerro de Pasco, eine erstaunlich grosse Stadt, eine der höchstgelegenen der Welt auf 4300 m.ü.M. Dominiert wird dieser ungemütliche und schmutzige Ort von einem im Zentrum liegenden, riesigen Höllenloch von dreihundert Metern Tiefe und einem Kilometer Durchmesser, das wohl für die Menschen genügend Einkommen bringt, hier oben zu verweilen. Es werden seit Jahrhunderten Mineralien (Silber, Blei, Gold, Kupfer, Zink) abgebaut. Wir umkreisten dieses Höllenloch, mussten aber achtgeben, um nicht von anderen Höllenlöchern verschlungen zu werden, denn wir passierten gleich drei Löcher in der Strasse (ohne hineinzufallen) – die Schachtdeckel fehlten…
Wir waren froh, diesen unangenehmen und hässlichen Ort wieder verlassen zu können, folgten der Strasse Richtung Selva oder peruanischem Urwald steil bergab nach Huanuco, einer Region, in der Touristen nicht so beliebt sein sollen, weil Amerikaner hier offenbar einmal Organhandel betrieben haben sollen. Es ist noch nicht lange her, dass eine Gruppe Touristen aufgehalten wurde und nur dank der Hilfe des Pastors und der Polizei ungeschoren davonkam. Wir blieben glücklicherweise unbehelligt, folgten dem engen Tal steil bergab und begannen mit der Suche nach einem Lagerplatz, als es etwas wärmer wurde. Heute waren wir aber mit wenig Glück gesegnet. Entweder trafen wir auf unsägliche Müllhalden am Bergbach, oder das Land war einfach zu dicht besiedelt, um ungestört frei zelten zu können. Es war schon beinahe Nacht, als wir endlich einen nur halbwegs geeigneten Platz fanden. Mein Zelt steht leicht schräg auf holprigem Grund, aber es hat Holz, sodass wir problemlos über dem Feuer kochen konnten. Jetzt hat es zu regnen begonnen – Zeit, das schützende Zelt aufzusuchen.
Km: 77‘267 (327)