Viele Freunde und Bekannte fiebern wohl seit einigen Wochen mit mir mit, wie das mit diesem etwas wahnsinnigen Trip per Floss in Amazonien nur herausgekommen ist. Und ich kann mit Freuden mitteilen: Ich lebe noch! Es war wie erwartet das ultimative Abenteuer mit Erlebnissen, die uns dauernd auf Trab hielten. Wir sassen 16 Tage auf Sand fest, weil über Nacht der Wasserstand des Flusses um einen Meter zurückging. Es war nicht klar, ob wir hier überhaupt je wegkommen würden. Dann kämpften wir fast täglich mit technischen Problemen des Antriebs, sodass wir uns oft auf dem Fluss nur treiben liessen, dafür die grandiose Dschungelnatur während vierzig Tagen hautnah erleben konnten. Der Flosstrip endete abrupt an der brasilianischen Grenze, wo wir vom Militär gestoppt wurden. Wir waren wahnsinnig genug, einen Fluchtversuch zu wagen, aber wir wurden kurz vor der peruanischen Grenze gefasst, mit Maschinengewehren bedroht und verhaftet und von gegen zwanzig dilettantischen Militärköpfen schikaniert und wie Schwerverbrecher behandelt. Nur Drogen fanden sie natürlich nicht. Es blieb uns nichts anderes übrig, als nach genau 1307 km den Flosstrip abzubrechen. Dies war der Endpunkt von Sams Reise, der unterdessen bereits in die Schweiz zurückgekehrt ist. Ich reiste in vier Tagen auf einem grossen Schiff nach Manaus, wo ich mich neu orientiere. Die Guyanas im Norden Südamerikas sind das nächste Ziel, dann geht es in Richtung Osten nochmals nach Brasilien, von wo ich wohl anfangs 2018 meine Mission geschafft haben werde, nämlich per Motorrad die Erde umrundet zu haben…
Mi, 30.08.2017: Benzin-Pipeline und Pink statt Rot
Es war heute Morgen wenig motivierend aufzustehen, weil es erneut intensiv regnete. Es war unmöglich, meine Hütte endlich wasserdicht zu machen. Dies ärgerte mich, weil die Sperrholzplatten von der extremen Feuchtigkeit bereits zu grauen anfangen. Sam war lange vor mir wach und transportierte die vier 200-Liter-Plastikfässer zur Holztreppe nahe unseres Flosses. Als ich aufstand, war er mit dem Schlauch beschäftigt, den er bis zu unseren vier bereits auf dem Floss bereiten Metallfässern legte.
Aber der Durchgang durch den Schlauch war verstopft, sodass wir versuchten, ihn mit Hilfe von Pressluft freizukriegen. Schliesslich rann Wasser aus dem Schlauch, aber von festen Materialien war nichts zu sehen. Sam saugte von unten den Schlauch an. Dies war wenig unangenehm, weil vorerst nur Wasser kam. Als endlich Benzin aus dem Schlauch strömte, begann er die Fässer eines nach dem andern zu füllen. Ich stand oben bei den Fässern, hielt die Fässer schräg, um den letzten Rest Treibstoff aus dem Fass zu kriegen. Beim Füllen des dritten Fasses wurde die Pipeline unterbrochen, und jetzt war es weit schwieriger, sie wieder in Gang zu setzen. Von den eingesogenen Benzindämpfen bekamen wir beinahe einen Flash. Wohl wegen der Luft im Schlauch war es schwierig, unsere Leitung wieder zum Laufen zu bringen. Wiederum nutzten wir die Pressluft, um einen Überdruck im Benzinfass oben zu erzeugen. Ein Plastiksack und ein T-Shirt genügten, um genügend Benzin in den Schlauch zu „drücken“, dass die Leitung wieder in Gang kam. 840 Liter Benzin wanderten auf diese Weise in unsere Fässer ganz vorne auf unserem Floss, und die Balsas reagierten mit einem weiteren Absinken auf das zusätzliche Gewicht. Wir werden morgen versuchen, mit weiteren 10-m-Bambussen für zusätzliche Schwimmhilfe zu sorgen.
Es war eine Freude, dass sich gegen Mittag die Wolken endlich verzogen, die Bretter meiner Hütte bald abtrockneten, sodass ich mit dem Verdichten des Daches beginnen konnte. Dazu machte ich Brea, harten Teer über dem Feuer flüssig, mit dem ich die Spalten zwischen den Sperrholzplatten füllte. Darüber klebte ich ein Teerband, das sich sofort mit dem flüssigen Teer verband. Dieser kühlte jedoch ziemlich schnell wieder ab, sodass ich ihn erneut über dem Feuer erhitzen musste. Schliesslich waren Spalten geschlossen und hoffentlich verdichtet. Erst der nächste Regen wird zeigen, wie erfolgreich der Schutz wirklich ist. Jetzt konnte ich endlich die rote Farbe zücken, mit der ich meine Hütte streichen wollte. Schweizerkreuze waren bereits abgeklebt, aber als ich mit dem Malen begann, war schnell klar, dass mein Rot kein Schweizer Rot war (wie ich es gewünscht hatte), sondern vielmehr ein Pink, das uns aber nicht wirklich stört – schräg bleibt schräg – und schwul sind wir ja nicht…
Sam wechselte seinen Schlafplatz bereit auf unser Boot, ich war noch nicht ganz so weit, denn die grauen Stellen möchte ich morgen mit derselben Farbe auch noch überstreichen. Am Abend fuhren wir zur Stadt in ein chinesisches Restaurant. Hier freute ich mich auf die vielen Rückmeldungen über unser Flossprojekt, am meisten über Isos langes Mail, das ich gleich mehrmals las.
Die Tage sind und bleiben anstrengend. Ich war nudelfertig am Abend und schon vor zehn Uhr in meinem Zelt. Klack – und schon schlief ich.
Km: 81‘186 (0)
Do, 31.08.2017: Weitere Bambusse als Schwimmhilfe
Seit gestern lagern im Eingangsbereich Witoto’s 16 Bambusstangen, die wir heute in mühseliger Arbeit unter die Balsas schoben. Diesmal setzten wir den dickeren, mehr tragenderen Teil vorne am Floss, um das Gewicht des vielen Benzins aufzufangen. Die erfreulich positive Hebwirkung war mit jedem Bambus grösser, aber mit jedem neuen wurde es auch schwieriger, ihn festzubinden. Ich tauchte zwischen den Balsas durch, weilte unter der Bretterfläche, befreite das Floss dort von Unrat, der immer wieder angeschwemmt wird und verschnürte jeden neuen Bambus an den bestehenden Querstangen. Das Wasser war nach den vielen Niederschlägen kühl und hatte einiges an Strömung, nur eine Anakonda war auch heute nirgends zu entdecken – glücklicherweise…
Um die Mittagszeit malte ich mit derselben Farbe auch noch den Innenraum, wo mein Zelt zu stehen kommt. Dann postierten wir weitere acht Bambusse. Das Floss hat jetzt wieder an Höhe gewonnen, eine beruhigende Feststellung. Gegen Abend brachte auch ich das meiste meines Materials zum Floss, stellte meinen Moskito-Schutz in meine jetzt hoffentlich wasserdichte Hütte und konstruierte einen schützenden Verschlag, dass mein Raum nicht von den Abgasen der Yamaha verpestet wird. Auf dickere Ablenkschläuche verzichten wir, um die Maschine nicht wieder zu überhitzen.
Das Floss ist jetzt beinahe reisefertig, jetzt gilt es noch, die Vorräte aufzustocken – wohl meine morgige Arbeit. Wir hoffen, am Samstag loszulegen.
Und noch etwas: Mein treuester Begleiter meiner Reise ist mein Computer, der trotz der vielen Abenteuer und Erschütterungen unermüdlich arbeitet. Zwar mehren sich die Luftblasen (?) auf dem Bildschirm, und vor links unten breitet sich immer mehr ein Lichtfehler aus, aber noch lassen sich problemlos mit ihm Bilder bearbeiten, Texte schreiben oder im Internet surfen. Über fünfjährig ist die Kiste mittlerweile und noch kein bisschen müde. Er lässt sich so schnell starten wie am ersten Tag!
Km: 81‘186 (0)
Fr, 01.09.2017: Letzte Vorbereitungen
Heute widmeten wir uns ein letztes Mal der schwierigen Frage, wie wir unsere Motorräder legal aus Ecuador schaffen können. Deshalb besuchten wir aus freien Stücken die Marina auf der Suche nach einer Zollstelle, um wenigstens Sams Honda nach Gesetz abzumelden. Aber auch dies gelang nicht, wir wurden zur Polizeistelle weitergeleitet, die wir aber nicht besuchten. Es wird womöglich spannend sein, ein nächstes Mal nach Ecuador zu reisen, weil unsere Maschinen nicht ordnungsgemäss abgemeldet wurden. Vielleicht wird mir helfen, eine neue Passnummer zu haben (der alte Pass ist in Kürze voll).
Während Sam einer letzten Schweisser-Arbeit nachging, nämlich eine (etwas kleinere) Ersatzschraube herzustellen, kümmerte ich mich um den vielen Proviant. 8 kg Mehl, Teigwaren, Reis, Gemüse, Früchte, Kartoffeln, Süssigkeiten, Kaffee und vor allem viel Wasser, das ich in mehreren Fahrten vom Tia zu Witoto’s brachte, insgesamt 90 Liter. Andere Gefässe wurden mit Hahnenwasser gefüllt, das perfekt geeignet ist zu kochen. Ich besuchte auch einen Stoffladen, wo ich roten und weissen Stoff kaufte, woraus ich mir in einer Näherei eine Schweizer Fahne nähen liess – etwas Patriotismus muss ja schon sein. Eine kleinere ecuadorianische Flagge hatten wir am Morgen schon gekauft. Zudem nagelte ich als zusätzlichen Regenschutz eine nette, geblümt-transparente Plastikfolie an den Rand des Daches. Am Flossrennen würden wir schon fast als Flowerpower durchgehen…
Am Nachmittag begann ich, das viele Material zum Floss zu schaffen, hatte noch einen Termin beim Näher, um die Flagge abzuholen. Ich bastelte einen Führersitz, der mit einem Kissen gepolstert wird. Am Abend kochte Sam eine 7-Eier-Riesenomelette, die aber wegen meiner neu gekauften Billig-Alu-Pfanne zum Rührei mutierte. Ich nähte die beiden Flaggen an einen dünnen Bambus, der dann morgen früh als Erstes zu oberst an den Mast montiert wird.
Wir sassen einige Zeit Zuckerrohrschnaps trinkend auf unserem fertigen Hausboot, genau vier Wochen haben wir gebraucht, um dieses Bijoux fertigzustellen. Aber jetzt sind wir bereit. Morgen kann’s losgehen. Es wird spannend sein zu erleben, so viele Stunden „nichts“ zu tun, zu geniessen, zu beobachten. Die grossen Fragen bleiben: Wie schaffen wir es über die Landesgrenzen? Hält meine Yamaha durch? Ist Sams Konstruktion genügend stark? Oder werden wir gar Menschenfressern begegnen und im Kochtopf landen? Zumindest davon gehen wir einmal nicht aus…
Km: 81‘206 (20 Flusskilometer)
Sa, 02.09.2017: Regenbogen über dem Rio Napo – der erste Tag eines grossen Abenteuers
Ich bin heute genau 56½-jährig und vom Unfug einer solch waghalsigen Expedition nach wie vor nicht verschont, und die kindliche Vorfreude ist umso grösser, je verrückter das Projekt ist. Am Morgen montierte ich die beiden Fähnchen an die Spitze unseres Riesenmastes, dann galt es, das letzte Material zum Floss zu schaffen, vor allem Sams Honda, die er jetzt in Coca doch nicht verkaufen konnte. Dafür parkierte Sam das Floss um, aber der Zugang, wo ich meine Yamaha schon vor Wochen aufs Floss geschafft hatte, war heute von den kürzlichen Hochwassern zu schlammig, sodass wir sie viert die marode Holztreppe und über zwei Bretter zum Floss schafften.
Freddy und Raul, die uns bis Rocafuerte begleiten sollten, waren gleichzeitig mit uns bereit in ihrem kleinen Motorboot. Die Begleitung kostet uns je weitere 400 $. Wir verabschiedeten uns von Carola und Enrique, und schon waren wir unterwegs auf dem Rio Payamino – zum ersten Mal flussabwärts. Nach zwei Schlaufen erreichten wir schnell den viel mächtigeren Rio Napo und die riesige Brücke, die wir ohne Probleme unterquerten. Kurz bevor wir die Marina von Coca erreichten, stellten wir den Motor ab und liessen uns proformahalber von Freddys Boot schleppen, dass es auch wirklich wie ein echter, geführter Touristentrip aussieht… Tatsächlich passierten wir die erste heikle Stelle unbehelligt und liessen uns vom stärker als erwartet strömenden Rio Napo mitschleppen. Wir waren immer wieder mit 10 km/h oder sogar etwas mehr unterwegs, einiges mehr, als wir erwartet hatten. Das sind gute Neuigkeiten, denn so kommen wir schneller voran als gedacht.
Nachdem ich auf dem Boot Ordnung in unser Küchenmaterial und den Proviant geschaffen hatte, stieg ich auf den Mast, genoss dort oben die relative Ruhe und liess den Dschungel wie in Zeitlupe an mir vorüberziehen. Nach 15 km bemerkte Sam ein regelmässig quietschendes Geräusch und ölte den noch vorhandenen Kardan direkt beim Ausgang des Motors. Wieder gut! Kurz nach Mittag hatten wir schon fast 30 km zurückgelegt, den Sattel hatten wir entfernt, um den Motor auch über die Luft noch etwas zu kühlen, zudem leisteten die beiden von der Schiffsschraube angetriebenen Wasserschläuche perfekte Dienste, die Maschine läuft wie ein „Örgeli“…
Ich kann nicht sagen, dass ich mich nicht getraut hätte, selbständig auf diesem Fluss zu navigieren, die Slalomfahrerei unserer beiden Führer empfand ich allerdings etwas übertrieben. Wahrscheinlich hätten mehrere Wege nach Rom (oder flussabwärts) geführt, aber natürlich hielten wir uns jetzt strikte an die Vorgaben der beiden. Ich genoss ein erstes Mal die Aussicht vom Mast, aber die Wärme trieb mich wieder hinunter. Die Kraxlerei an der Bambus-Strickleiter ist nach wie vor nicht ohne. Wenn nur nie einer dieser kurzen Bambusabschnitte reisst! Ärgerlich war, dass sich beim Aufstieg das Maps-me-App selbständig machte und sich definitiv vom Handy verabschiedete.
Am Nachmittag fungierte ich lange Zeit als Kapitän; die Steuerung reagiert äusserst sensibel, und dies ist gut so, Sam hat mit seiner Schnur- und Umlenkrollentechnik also voll überzeugt. Gegen Abend war ich nochmals lange auf dem Mast und beobachtete, wie sich das Grün des Dschungels mit jeder Minute veränderte und der Kontrast zum schwarzen Gewitterhimmel immer noch grösser wurde, der uns mit einem Regenbogen, der immer intensiver wurde, süss schmeichelte und anzulocken versuchte. Natürlich fielen wir auf diese Falle herein (ging allerdings auch nicht anders, der Fluss ist quasi Einbahn). Als es zu dunkeln begann, fuhren wir geradewegs in den Gewittersturm. Wir wollten Halt machen bei Verwandten Freddys, aber das Anlegen war nicht leicht, wir wurden etwas abgetrieben und mussten volle Motorenleistung geben, bis der Auspuff zu glühen begann! Aber schliesslich konnten wir problemlos anlegen.
Jetzt bin ich alleine auf dem Boot, es ist stockdunkel, die andern drei sind unterwegs zu Bekannten, bei denen wir wohl zu Essen kommen werden. Sie kehrten bald zurück, ich hatte unterdessen Unterschlupf im Zelt gefunden, das Dach blieb glücklicherweise dicht, und das Innenzelt schützte vor den wenigen Moskitos. Die Motivation, selber zu kochen, war klein, weil sämtliches Holz tropfnass war, das von den dreien gebrachte Essen war einfach, aber zweckmässig, Reis mit warmen Bananen…
Km: 81‘282 (76)
So, 03.09.2017: In Rekordtempo den Rio Napo hinunter
Sobald es hell wurde, liefen die Maschinen bereits wieder auf Volltouren – es war erst sechs Uhr morgens. Vielleicht hatte das gestrige Gewitter den Wasserpegel etwas ansteigen lassen – oder wir fanden jene Stellen, wo die Strömung besser war, auf jeden Fall kamen wir sofort um einiges schneller vorwärts als gestern, manchmal mit bis zu 12 km/h. Der Dschungel Ecuadors ist reich an Bodenschätzen, es werden riesige Vorkommen von Erdöl vermutet, weshalb wir einige perfekt ausgebaute Anlegestellen passierten, von denen aus Strassen in den Urwald führen. Ich möchte gar nicht wissen, wie es dort aussieht, wo tatsächlich irgendwelche Mineralien abgebaut werden. Es begegneten uns auch mit Lastwagen beladene, erstaunlich grosse Fähren, die von einem dreistöckigen Kraftboot gestossen wurden. Ich amüsierte mich über die Namen dieser Fähren: „Myleidi Elisabeth VII.“, zum Beispiel…
Ich war bald am Feuer machen, um unser Feuerfass endlich einzuweihen. Ich kochte Kaffee, bereitete Rührei für vier Personen, und vor allem backte ich frisches Brot, der Teig war über Nacht rekordverdächtig aufgegangen. Sam hatte tatsächlich einen kleinen Bagre aus dem Fluss geholt, der schnell ausgenommen war und auf dem Grill landete.
Dann hackte ich Holz in feuergerechte Abschnitte und stapelte es auf der vorderen Plattform einigermassen organisiert auf. Derweil waren Sam und Freddy mit dem kleinen Boot unterwegs, um drei frische Bambusstämme zu besorgen, denn die Honda hatte vorne etwas Schieflage erhalten, und das Unterlegen eines Vierkantholzes brachte nichts, weil es brach. Es war aber auch nicht einfach, die Bambusse unter die Bretter zu würgen. Aber mit etwas Gewalt funktionierte es schliesslich doch. Ich montierte in dieser Zeit meine noch in Coca gekaufte Hängematte. Aber die Sonne brannte zu erbarmungslos, um sie gleich sofort längere Zeit zu nutzen.
Nach wie vor mussten wir auf der Hut sein, auf dem Fluss die richtige Spur zu finden. Je breiter der Fluss ist, umso heimtückiger sind die seichten Stellen, wenn man aber eine gute Strömung (meist nahe des Ufers) erwischt, kommt man gut vorwärts. Und doch glaube ich nicht, dass wir diesen ersten Teil nicht auch alleine problemlos geschafft hätten.
Am Nachmittag war ich ebenfalls mit Freddys Kleinboot unterwegs. Auf einer sandigen Flussinsel besorgten wir einen Haufen Schwemmholz, das der Fluss bei einem Hochwasser hier zurückgelassen hatte. Ich habe momentan noch keinen sonnenfreien Lieblingsplatz auf dem Floss. Obwohl ich meine Hütte recht gut abgedichtet hatte, ist es im Vorraum wegen der Abgase der Yamaha sehr warm und auch etwas muffig. Auf dem Dach der Hütte ist es zwar windig, auch auf dem Hochsitz, aber ich bin der Sonne ziemlich extrem ausgesetzt. Gegen Abend lag ich in meiner Hängematte und schützte mich mit einem Regenschirm (!) gegen die erbarmungslos stechende Sonne. Gleich zweimal wurden wir von kleineren Gruppen auf unserem Boot besucht, der Chef der zweiten Gruppe war Sicherheitsbeauftragter einer Ölfirma und wünschte unsere Pässe zu sehen, die gleich auch fotografiert wurden. Hoffentlich durchkreuzt der eigentlich nette Herr nicht unsere Pläne, wie wir die Grenze überfahren wollen, indem er die Marina in Rocafuerte vorinformiert.
Die schönste Zeit des Tages ist bestimmt der Abend, wenn weit im Westen die Sonne gleichsam unter dem Fluss verschwindet. Wir legten heute etwas früher an als gestern. Auf einer Sandbank anzulegen kann gefährlich sein, weil man nie weiss, wie sich der Wasserstand des Flusses entwickelt, deshalb nutzten wir die maximale Länge eines Doppelseiles, um uns im Sand anzubinden. Die beiden dünnen Staken steckten wir in den Sand, zudem stoppten wir das Floss mit zusätzlichen Staken zwischen den Balsas. Dann versuchten Sam und Freddy ihr Fischerglück – leider ohne Erfolg.
Ich beobachtete das immer intensiver werdende Wetterleuchten, und die Blitze schienen näher zu kommen. Das Feuer brannte bereits, um Nudeln zu kochen, aber wir wollten noch etwas abwarten, ob doch noch ein Fisch anbeisst. Dies war des Zögern zu lange, denn von einer Sekunde auf die andere frischte der Wind auf, der tropische Dampfkochtopf kam gleichsam zum Explodieren. Es ist wohl die grösste Gefahr für unser Floss, wenn Wind aufkommt und an der Hütte und an Sams Plastikdach zu rütteln beginnt. Dann begann es heftig zu schütten, wir deckten die Glut, nur sahen wir bald, dass das Grillfass noch optimiert werden muss, weil Wasser Zugang ins Innere des Fasses gefunden hatte. Freddy und Raul hatten sich unterdessen in ihr Boot verzogen und suchten Schutz vor den unglaublichen Wassermassen, die vom Himmel stürzten. Sam genoss eines seiner Süssgetränke, ich chilenischen Rotwein, und trotz Regens war es ziemlich lustig. Sam holte seinen Benzinkocher. Zuerst wurde das geschnetzelte Gemüse gegart, dann kam ein Riesentopf mit Spaghetti auf die Benzinflamme. Dies dauerte seine Zeit. Wir waren unterdessen tropfnass, auf Sams Dach hatten sich riesige Wassermengen gesammelt, die entfernt werden mussten, indem man von unten gegen den Plastik drückt und so das Wasser verdrängt, das jetzt in wahren Wasserfällen in den Fluss stürzte. Aber alles war jetzt ziemlich lustig, das heftige Gewitter liess uns einigermassen kühl, obwohl kühl war es in keiner Weise, vielmehr schien Petrus seinen Urintopf vom Himmel zu leeren – und göttlicher Urin kann ja nicht kalt sein…
Schliesslich waren die Spaghetti bereit. Nach dem Essen stoppte der Regen, und wir sassen noch einige Zeit vor meinem Zelt. Das Gute an der Geschichte: Mein Holzdach hielt auch dieser Belastung stand, es bleibt wasserdicht. Was mir mehr zu denken gibt, ist mein Knie, das ich mir heute verdrehte, als ich in den Fluss sprang und glaubte, es sei ein Meter tief, aber es waren nur deren dreissig Zentimeter. O Schreck, so reisst man sich Kreuzbänder…, aber ist wohl nur eine leichte Innenbandzerrung…
Auch in der Nacht kam nochmals ein Sturm auf, aber eine neue Regenwand verzog sich, alles blieb ruhig.
Km: 81‘379 (97)
Mo, 04.09.2017: Aus Ecuador getrickst und von Flussdelfinen empfangen
Etwa so habe ich mir das vorgestellt. Rund um uns herum hat es nur Wasser und Wald. Wir haben im stillen Wasser einer Sandbank angelegt, ich höre das leise Plätschern und Fliessen des grösser gewordenen Rio Napo. Ich lausche dem mannigfachen Wundergetöse des ecuadorianischen oder peruanischen Dschungels. Der Mond ist beinahe voll und spiegelt sich im friedlichen, unaufhörlich dahinfliessenden Strom. Wir haben die Zivilisation definitiv verlassen, versuchen eins zu werden mit der Natur, die rund um uns herum so gewaltig und stark ist. Das Ankommen an diesem zauberhaften Ort war ein Riesenerlebnis, erstens weil die Szenerie beinahe nicht zu toppen ist, und zweitens weil wir zum ersten Mal selbständig einen Übernachtungsplatz anfahren mussten.
Auf Sandbänken anzulegen beinhaltet immer eine gewisse Gefahr, denn der Wasserstand kann sich innert Stunden um Meter verändern, sodass du hoffnungslos stecken bleibst oder sich der gesetzte Staken löst und du unkontrolliert den Fluss hinunterdüst. Dies war auch Freddys Angst heute Morgen, als er beim Dämmern schon beinahe hyperaktiv den Lagerplatz verlassen wollte, dabei war es ein Klacks wegzukommen. Das etwas stressige Aufstehen war etwas ärgerlich, sodass wir die Maschine nicht starteten und uns vom Fluss treiben liessen – mit immerhin über 5 km/h. Während Sam noch in seinem Zelt blieb (er hatte etwas länger Ruhe nötig als sonst…), kümmerte ich mich ums Feuer, bereitete Kaffee, Eier.
Die heutige Fahrt verlief nicht ganz ohne Probleme. Rund um die Schiffsschraube begann es auf einmal zu scheppern. Sam stellte bald fest, dass wohl irgendein Holzstück das Metallblech, das verhindern soll, dass Luft angesogen wird, verbogen hatte, sodass es die Schraube leicht touchierte. Das Teil wurde mit einem Seil hochgebunden und die Störung damit mindestens provisorisch unterbunden.
Der spannendste Teil des Tages fand aber in Rocafuerte statt, dem trostlosen Grenzort mit genau zwei gepflästerten Strassen, vielen ärmlichen Holzhäusern, aber einer top ausgebauten Schule, die wohl von irgendjemand gesponsort wurde. Es war irgendwie ein beklemmendes Gefühl, als einzige Touristen durch diese Strassen zu flanieren und skeptisch begafft zu werden. Zuerst suchten wir die Marina auf. Hier spannte man uns auf die Folter, wir warteten lange, bis endlich der Chef persönlich erschien und über unseren Trip nicht besonders erfreut schien. Aber jetzt half uns Freddy, der angab, dass er uns bis zur Grenze Peru begleiten werde und dass wir dort von neuem begleitet würden. Und die Taktik ging auf! Dann besuchten wir die scheinbar verlassene Immigration, die Polizeistation, wo niemand zu sein schien. Aber dann erschien ein schläfriger Beamter und stempelte unsere Pässe ziemlich unmotiviert ab. Womit wir Ecuador offiziell verlassen hatten. Zumindest wir als Personen – von den Motorrädern auf dem Floss erzählten wir natürlich nichts, deshalb waren wir auch in Freddys kleinem Boot unterwegs, das uns jetzt schnurstracks zurück zum Floss brachte. Es war wie ein Ankommen zu Hause.
Noch eine halbe Stunde begleitete uns Freddy und Raul, bevor sie sich auf den Rückweg nach Coca machten. Zum ersten Mal waren wir für unser Boot selbst verantwortlich. Gleichsam im Niemandsland wollten wir nach einem Lagerplatz suchen, um erst morgen früh Pantoja in Peru anzusteuern. Der Fluss war jetzt Grenze zwischen Ecuador und Peru, und kaum waren wir alleine, wurden wir von einer Gruppe riesiger, grauer Flussdelfine begrüsst, die immer wieder auftauchten, als ob sie uns viel Glück wünschen oder in Peru willkommen heissen würden.
Das Anlegen an eine Sandbank war leichter als erwartet. Jetzt hoffen wir nur noch, dass der Wasserstand einigermassen gleich bleibt. Es ist tiefe Nacht, Sam liegt in der Hängematte und liest – ich bin am Schreiben, diese Kapitel sind lang und werden unvergesslich sein…
Km: 81‘457 (78)
Di, 05.09.2017: Drei heikle Klippen überstanden
Die Überraschung am Morgen war gross, als von der Sandbank, auf der wir angelegt hatten, nichts mehr zu sehen war. Der Wasserstand des Flusses hatte sich um etwa einen Meter erhöht. Glücklicherweise hielt der tief in den Sand gerammte Staken und hinderte das Floss unkontrolliert davonzuschwimmen.
Natürlicherweise waren wir erneut sehr früh unterwegs, ich genoss die herrliche Morgenstimmung, indem ich mit meiner GoPro ein kleines Filmchen drehte, während sich Sam ums Feuer kümmerte, um schnell Glut für den vorbereiteten Teig zu bekommen. Dieser unaufmerksame Moment reichte, um direkt in Richtung eines im Fluss steckenden Palmstammes zu fahren. Zwar startete Sam die Maschine in Rekordtempo, aber die Strömung war zu stark, um diesem in Wasser wie eine Schaukel federnden Holzungetüm auszuweichen. Wir rammten den Stamm mit der vorderen Seite des Buges. Er schliff wie eine Riesenfeile entlang des Balsastammes, riss unser Grillfass um und schlug am Mast auf, wo der Hochsitz dafür sorgte, dass der Stamm hängen blieb, der aber auch bedrohlich an meiner Hütte rüttelte und riss. Wer sollte stärker sein, der Baumstamm oder unser Mast?
Unterdessen gab Sam unserer Maschine den letzten Rest, und er kam tatsächlich an gegen die Strömung. Zentimeter für Zentimeter begann sich der Stamm auszuschlaufen, und mit einem Ruck spickte er schliesslich zur Seite. Sofort waren wir gleich mehrere Meter entfernt vom Stamm, wir waren frei! Und hatten Glück, dass die Unaufmerksamkeit keine böse Folgen hatte.
Die Strömung war wegen des gefallenen Regens in der Nacht grösser und machte den Fluss heimtückischer. Erneut fuhren wir direkt auf einen noch dickeren, aber weniger hoch aus dem Wasser aufragenden Stamm zu, aber diesmal waren wir gewappnet und starteten die Maschine genug früh. Gleichwohl fehlten nur fünf Meter, diesen noch viel stärkeren Stamm zu rammen – mit unabsehbaren Folgen.
Pantoja war jetzt das Ziel, das schon aus fünf Kilometern Distanz sichtbar wurde. Zuerst passierten wir die Militärbasis. Einige Geschütze sind weit oben am Hang in Stellung gebracht. Wir wussten, dass wir hier nicht anlegen mussten. Kaum ein Kilometer weiter erreichten wir das Dorf, das sogleich einen viel sympathischeren Eindruck als Rocafuerte machte. Wir peilten ein uraltes, rostiges Versorgungsschiff an, das ebenfalls im Hafen angelegt hatte. In eleganter Kurve näherten wir uns von unten der Anlegestelle. Sofort war ein Junge bereit, das geworfene Seil zu übernehmen und an einer Hütte (!) festzubinden. Gleich Dutzende von neugierigen oder ungläubigen Augen starrten uns an. Ein solch eigenartiges Gefährt hatten sie wohl noch nie gesehen auf dem Fluss. Sofort waren gleich mehrere Interessierte auf dem Floss, darunter zwei Polizisten, denen ich unseren etwas eigenwilligen Antrieb des Bootes erklären musste. Tatsächlich hatte wohl gestern Pantoja ein Versorgungsschiff aus Iquitos erreicht. Es wurden mir gleich ein Riesenpack von Mini-Cocas angeboten, die ich kaufte – zusätzlich sechs peruanische Flaschen Cristal-Bier.
Unterdessen war Sam unterwegs zur Immigrationsstelle. Und wie erhofft mahlen die Behörden in Peru etwas weniger strikt und europäisch als in Ecuador (die zahlen ja auch mit US-Dollars). Zwar hatte er einige Zeit zu warten, weil die überaus hübsche Zollbeamtin am Mittagessen war, aber dann bekam er einen Einreisestempel, allerdings nur gültig für dreissig Tage. Ich hatte unterdessen unser Floss bewacht und mein Spanisch angewandt, um all die Fragen der neugierigen Einheimischen zu beantworten. Dann spazierte auch ich hoch zur Immigration, und im Nu hatte auch ich einen gültigen Einreisestempel.
Am Morgen hatte ich noch die peruanische Flagge fertiggenäht, und jetzt bemerkte ich das peinliche Missgeschick: Meine Flagge sah aus wie die österreichische, die ich am Morgen bereits auf dem Mast postiert hatte, um einen guten Eindruck zu machen, aber wenigstens war es windstill, sodass man zwar Rot und Weiss erkennen konnte, aber nicht wirklich sehen konnte, dass es sich nicht um die peruanische Flagge handelt. Deshalb kaufte ich in einem Laden eine kleine Schiffsflagge, in Peru-Proportionen, die jetzt bereits oberhalb des Mastes flattert.
Offensichtlich interessierte sich kaum einer für unsere mitgeführten Motorräder. Einer der Polizisten wollte zwar meinen Fahrzeugausweis sehen, aber wohl mehr, weil er sich für meine Yamaha an sich interessierte.
So überstanden wir auch die dritte, vermeintlich schwierigste Klippe des Tages. Und dies war überraschend leicht! Das Gefühl der Freiheit war grenzenlos, als wir das kleine Kaff Pantoja souverän verliessen. Dies musste mit einem ersten Bier begossen werden. Weil sich bei Pantoja die beiden mächtigen Flüsse Rio Napo und Rio Aguarico vereinten, verfügten wir jetzt über wesentlich mehr Wasser, was das Navigieren im Fluss leichter macht. Die Freude ist gross, dass wir jetzt auch ohne Motor zwischen 5 und 8 km/h schnell unterwegs sind – nur mit Hilfe der Strömung. Dies macht das Reisen viel angenehmer und vor allem ruhiger, halt gemütlicher. Und zudem kann unsere Maschine geschont werden, und wir verbrauchen kein Benzin! Extraprima! Deshalb war die Nachmittagsfahrt überaus genussreich. Wiederum schien der Wald wie in Zeitlupe an uns vorbeizuschweben. Ganz selten passierten wir eine kleine Siedlung, manchmal nur ein einzelnes Haus. Was muss das für ein Leben sein, wenn man in ein solches Gebiet hineingeboren wird! Aber wenn man nichts anderes kennt, dürfte dies eigentlich ganz angenehm sein, solange man gesund bleibt.
Der Rio Napo ist hier ein mächtiger Fluss und wird immer wieder unterbrochen durch Inseln, bei denen man sich entscheiden muss, auf welcher Seite ein Vorwärtskommen schneller oder idealer ist. Nur selten liessen wir die Maschinen laufen, um einem Hindernis auszuweichen. Aber wir sind jetzt unterwegs auf dem vielleicht vermeintlich schwierigsten Abschnitt dieses Abenteuers, weil das Land hier kaum besiedelt ist. Wir sind wirklich auf uns alleine gestellt. Wir müssen uns wirklich Sorge tragen, hier darf kein Unfall passieren oder uns eine Krankheit ereilen.
Wir gingen während der Fahrt kleineren Arbeiten nach, testeten bei einem Anflug von etwas Wind sogar einmal das Segel, der sich dann aber doch als zu schwach oder unregelmässig erwies. Gleich mehrfach entkamen wir heute Gewittern. Erst am Abend fuhren wir geradewegs in eine schwarze Wand, legten an am Schlammufer eines kleinen Seitenarms des Hauptstroms. Die grösste wettermässige Gefahr auf dieser Reise scheint nicht der Regen, sondern der Wind zu sein, der mit seinen heftigen Böen ziemlich heftig an unseren Bauten herumreisst. Das Kochen über dem Feuer hatten wir regiemässig erneut verpasst, weil bald ein heftiger Regen herunterprasselte und das von mir mühevoll neu montierte Grillfass mit Wasser füllte. Wir blieben kulinarisch flexibel, Thon, Zwiebel, Brot, ein Glas Rotwein, auch nicht schlecht, aber dann trafen die Mücken überfallartig ein und trieben mich in mein Zelt…
Km: 81‘513 (56)
Mi, 06.09.2017: Bösartig-lästige und lieblich-verspielte Tiere und ein technisches Problem
In der Nacht hatte ein Landregen eingesetzt, der bis in die frühen Morgenstunden dauerte. Die Niederschläge und der nahe Wald, vor allem aber unser menschliches Blut zogen Horden von Moskitos an. Nur im Innenzelt war man vor ihnen sicher, wenn man es dann schliessen kann. Denn auch mein Zelt beginnt Auflösungserscheinungen zu zeigen, der Reissverschluss lässt sich nur noch mit Tricks (die unregelmässig funktionioren) schliessen, und dies wäre gerade jetzt eminent wichtig, vor allem dass dieser häufige Arbeitsgang schnell erledigt ist. Denn der Drang der Moskitos ist unerbittlich, sodass sich nicht vermeiden lässt, dass einige dieser Vieher eindringen und innert Sekunden zustechen. Dies wird sichtbar, wenn man sich nach dem Schliessen des Vorhangs auf die Suche nach Eindringlingen macht, um sie zu erschlagen. Wenn man dies geschafft hat, bleibt immer ein roter Fleck auf der Haut zurück. Zudem haben Moskitos das Talent, sich gut verstecken zu können, wenn man sie sucht.
Am Morgen war es trüb, die höchsten Baumwipfel verschwanden im Nebel, das eigenartig gurrende und variantenreich singende Rufen der Vögel – es war überhaupt kein Zwitschern – weckte uns schon früh, und wir wollten die Zeit nutzen, uns schon früh den Rio Napo hinuntertreiben zu lassen. Schnell waren die beiden Seile gelöst, die das Floss etwa an der gewünschten Stelle festhalten sollten. Jetzt hatten wir kaum zweihundert Meter aus diesem Seitenarm des Flusses gegen die Strömung zu fahren. Dies war gleich eine Herausforderung, denn die Kraft des Flusses versuchte uns ans gegenüberliegende Ufer zu drängen, aber wir schafften es und fanden uns bald in ruhigeren Gefilden des Hauptflusses wieder.
Meist bestimmte jetzt die natürliche Strömung, welchen Weg das Floss (und somit wir) nehmen. Ein Verirren ist trotz mangelnder Landkarte ein Ding der Unmöglichkeit – nur immer schön dem Fluss folgen. Maps Me ist in der Tat keine grosse Hilfe, sich zu orientieren. Zuweilen fährt man laut Karte auf dem Land, was nun definitiv nicht wirklich der Fall ist.
Wenn man sich treiben lässt, muss mindestens einer von uns konstant extrem auf der Hut sein, denn steckengebliebene Baumstämme, die, wenn sie nett sind, hoch aus dem Wasser ragen, bergen – wie gestern erlebt – grosse Gefahren, und denen muss ausgewichen werden. Dann kommt der Yamaha-Motor zum Einsatz, und mit der Steuerung lässt sich die Richtung einigermassen gut bestimmen. Dabei ist es immer ratsam, den Fluss zu „lesen“, zu beobachten, wie die natürliche Strömung verläuft und dem Hindernis auf der entsprechenden Seite auszuweichen. Auch heute waren einige solche Klippen zu meistern, unsere Erfahrung steigert sich von Tag zu Tag, und dies ist von Vorteil.
Es war heute Morgen nicht leicht, wegen der beinahe hundertprozentigen Feuchtigkeit ein Feuer hinzukriegen, um frisches Brot zu backen. Im Verlaufe des Tages hellte es auf, die tropische Urwaldsonne gleisste ohne Erbarmen vom Himmel und brachte Sams Dachplastik beinahe zum Schmelzen. Wie durch einen Zauberspruch gerufen, flatterten plötzlich Dutzende derselben Schmetterlingsart rund um unser Floss, und diese lieblichen, neugierigen Tiere liessen sich auch durch den Motor nicht stören, landeten auf unserer Haut, um von unseren Ausdünstungen zu kosten oder setzten sich gleich zu fünft auf Sams Teddybär, der für sie eine andere besondere Ausstrahlung haben musste. Wir wurden aber keineswegs belästigt von diesen Insekten, vielmehr freuten wir uns, wie sie unserem Floss in erstaunlicher Schnelligkeit nachflatterten. Und so schnell, wie sie gekommen waren, verschwanden sie nach zwei Stunden wieder.
Wir passierten heute überraschend viele kleine Dörfer, manchmal nur einsam am Ufer stehende, einsame Strohhütten, aus denen die neugierigen Menschen geeilt kamen, um unser Vorbeifahren zu beobachten. Die grösseren Weiler verfügen über eine Schule, dies ist meist das am besten gebaute Haus der ganzen Siedlung.
Und dann stoppte uns eines jener unangenehm scheppernden Geräusche in der Nähe der Schiffsschraube. Die Yamaha wurde abgestellt, und Sam stellte schnell fest, dass diesmal der Schaden wesentlich grösser als letztes Mal ist. Offensichtlich waren die Kugellager nahe der Schiffsschraube während der letzten Tage so beansprucht worden, dass eines von beiden bereits sämtliche Kugeln verloren hat, sodass sich der Eingang des Rohrs des vom Fluss stammenden Kühlwassers zu nahe an die drehende Schiffsschraube kam und das Geräusch auslöste. Mit einem Spannset wurde dieser Eingangsstutzen nach hinten gebunden, was natürlich nur Symptombekämpfung ist. Aber die Maschine war wieder funktionstüchtig, aber nur noch für Notfälle zu gebrauchen, wenn einem Hindernis ausgewichen werden muss. Weitere dreieinhalb Stunden liessen wir uns auf dem Fluss treiben, den Motor nutzten wir nur zweimal, um dem Floss die richtige Richtung zu geben. Kurz vor dem Dämmern legten wir auf der Lee-Seite einer Insel an, demontierten die ganze Antriebsinstallation, um die Bestätigung für die bereits gemachten Vermutungen zu bekommen. Beide Lager sind zerschlissen. Schade hat Sam nicht auf mich gehört, als ich ihm sagte, ich würde Ersatzlager für sämtliche Teile mitnehmen. Es wird jetzt morgen eine Knacknuss sein, wie wir der Welle wieder die nötige Stabilität verleihen werden. Sicher ist, dass wir unbedingt auf den Motor zurückgreifen wollen, weil ein Treibenlassen ohne einfach zu gefährlich ist. Weniger 300 km sind es noch bis Mazan, einem grösseren Ort am Fluss, von wo es leicht ist, Iquitos zu erreichen, wo wir die gesuchten Ersatzteile wohl auch bekommen werden.
Schon am Nachmittag hatte ich eine Portion Nudeln gekocht, sodass wir jetzt schon vor acht Uhr im Zelt liegen, um vor den Moskitos geschützt zu sein. Eben ist der tiefrote Vollmond aufgegangen, aber ich war zu faul, an Land zu schwimmen, um das perfekte Urwald-Vollmond-Bild zu schiessen.
Km: 81‘590 (77)
Do, 07.09.2017: Auf Sand gesetzt
Wir wussten bereits, als wir aufstanden, dass heute zwei Herausforderungen anstanden, nämlich erstens eine Ersatzlösung für das defekte Kugellager zu finden und zweitens gut von hier wieder wegzukommen. Ich hatte schon gestern Bedenken geäussert, dass wir bei sinkendem Wasserstand hier nicht mehr wegkommen könnten. Und wir setzten die Prioritäten verkehrt. Zuerst suchten wir gemeinsam den nahen Wald auf und fanden tatsächlich bald von jenem beinahe metallharten Holz, dessen Stammteil uns als Ersatzlager dienen sollte. Wir nahmen gleich auch einige weitere Schilfrohrstecken mit, mit denen sich das Floss gut im Sand anbinden lässt. Während sich Sam um die Säge- und Schnitzarbeiten kümmerte, versuchte ich mit dem Hartholz-Palo, unser bereits leicht festsitzendes Floss zumindest von der Stelle zu rühren und Richtung Seitenarm des Rio Napo zu stemmen. Dabei war ich wenig erfolgreich, weil das Floss bereits im Sand festzustecken schien. Deshalb wurden die Prioritäten kurzum gewechselt, und Sam half mir fortan beim Bewegen des Flosses.
Es war offensichtlich, dass sich der Wasserstand des Flusses im Verlaufe des Tages weiterhin dramatisch vermindern würde. Sam schlug vor, die Benzinfässer vom Floss zu nehmen, damit das damit leichtere Gefährt leichter von der Stelle zu rühren ist. Ich wollte mir Hilfe holen von einem nahen Dorf. Mit einigen kraftvollen Männern sollte das Boot doch in tiefere Gefilde gebracht werden können. Schliesslich machten wir beides.
Ich machte mich auf die Suche nach einem Dorf, das ich auf der Insel ennet des Seitenarms vermutete. Recht schnell fand ich eine Siedlung, in der Menschen in einer Einfachheit leben, die ich noch selten gesehen habe. Fünf Personen bewohnen eine Strohhütte, die Kinder sind offensichtlich mangelernährt, weil deren Bauch aufgedunsen ist. Natürlich waren die Leute überrascht über mein Erscheinen und versteckten sich mehr in der Hütte, als sie mich empfangen wollten, aber schliesslich kam der Vater der Familie aus der Hütte, der gleich wenig Spanisch spricht wie ich, aber wir hatten uns schnell verstanden. Sofort mobilisierte er seinen im Wald arbeitenden Sohn, und zu dritt kehrten wir zum Floss zurück. Von einem Dorf hatte ich nichts gesehen, nur dieses einzelne Haus mitten im Dschungel war mir begegnet.
Der Junge sah bald, dass wir zwei weitere Palos benötigen, und im Nu kam er mit zwei starken Stämmen aus dem Wald zurück. Zu viert hatten wir viel mehr Energie, das Floss Richtung Fluss zu bewegen. Aber dieser arbeitete gegen uns und war weiter gesunken. Wir schafften es, das Floss sechs Meter von der immer grösser werdenden Sandbank zu entfernen in Richtung Fluss, aber dies reichte nicht. Zwar schaufelten wir geschätzte Tonnen von Sand von Hand Richtung Flussmitte, um dann das Floss wieder um zwanzig bis sechzig Zentimeter zu verschieben. Aber schliesslich verliessen Sam und mich die Energie, und wir ergaben uns dem Schicksal. Wir stecken im Sand fest und kommen vorderhand nicht mehr weg. Was wir brauchen, ist ein heftiger Regen in den Bergen, damit der Wasserstand wieder ansteigt und wir eine Chance haben, hier überhaupt wieder wegzukommen. Wir haben zwar recht gut vorgesorgt mit Proviant und könnten wohl zwei Wochen hier warten, aber wollen wir das wirklich? Ab sofort sind wir von den Launen des Wetters und des peruanischen Urwaldes abhängig, und viel weiter von der Zivilisation können wir gar nicht entfernt sein.
Sam setzte einen weiteren Palo, um zu beobachten, wie sich der Wasserstand verhält. In zwei Stunden sank er um weitere zehn Zentimeter. Zwischen den Auslegern des Flosses türmt sich mittlerweile ein Sandhügel, an ein Wegkommen ist vorderhand nicht zu denken. Zudem haben sich heute sämtliche Gewitterwolken verzogen, die Trockenzeit scheint voll eingeschlagen zu haben… Es scheint ein Geduldsspiel zu werden, wer zuerst aufgibt, wir oder das Wetter, das uns mit Niederschlägen in den Anden so sehr helfen könnte.
Zur Nebensächlichkeit geworden ist das Problem mit den Lagern der Welle. Das hölzerne Werkstück ist fertiggestellt und dürstet danach, ausprobiert zu werden, aber mit so wenig Wasser geht das leider nicht. Die beiden Helfer verabschiedete ich mit einem Fresspaket, das ihnen hoffentlich über die nächsten Tage wenigstens zu etwas kulinarischer Abwechslung und Freude verhilft.
Ich kochte eine weitere Portion Nudeln – das Gemüse geht allmählich zur Neige, aber wie gesagt, wir haben gut vorgesorgt und halten es eine ganze Weile hier aus.
Ein Ärgernis den ganzen Tag über waren die überaus vielen Sandfliegen und aggressiven Bremsen, die uns mit ihren elend juckenden Stichen den ganzen Tag über plagten. Jetzt liege ich im Zelt, noch kann ich am Computer Tagebuch schreiben. Die Frage ist, wie lange noch? Denn ohne zu fahren lassen sich auch die technischen Geräte nicht mit Strom versorgen…
Km: 81‘590 (0)
Fr, 08.09.2017: In den Sand gesetzt…
Weil ich während der Dämmerung erwachte und längst ausgeschlafen war, stand ich schon sehr früh auf, obwohl dies eigentlich gar nicht nötig gewesen wäre. Denn wir werden wohl noch einige Zeit hier festsitzen. Unterdessen kann man sich fragen, wie man es schaffen kann, ein solch schweres Flussgefährt vollkommen in den Sand zu setzen. Wir brauchten dazu nicht mal grosse Baumaschinen oder einen Kran. Tatsächlich war unser Floss heute Morgen umgeben von schwarzem Sand und Schlick, der Wasserstand war erneut dramatisch zurückgegangen und liess uns zur Lachnummer der ganz wenigen Passanten in ihren kleinen Peque-Peque-Bötchen werden. Es fragt sich, ob wir diesen Trip wirklich in den Sand gesetzt haben. Wie ums Himmelswillen kommen wir hier nur wieder weg?
Es war schon frühmorgens beinahe wolkenlos, keine Spur von rettendem Wasser, dafür war es bald unerträglich schwül und heiss, dazu ärgerten uns die verschiedenen Arten von lästigen Sandfliegen. Natürlich fragen wir uns, wie lange wir es hier aushalten werden. Wir sind hoffnungslos blockiert, und doch wollen wir so gerne die zauberhafte Reise auf dem Fluss fortsetzen. Verpflegungstechnisch haben wir uns gut gerüstet. Und bald kam Sam mit einem 2-kg-Brocken von einem wunderschönen Bagre anmarschiert. Es war noch dunkel, als ich den verzweifelten Kampf des Fisches um sein Leben gehört hatte – und am Morgen versuchte sich schon eine ganze Schar von Vögeln am Opfer gütlich zu tun.
Der Fisch war bald ausgenommen, gewürzt und brutzelte auf dem Grill, einem Fischfrühstück stand nichts im Wege. Natürlich wird es interessant sein, hier die unerhört viele Zeit sinnvoll totzuschlagen. Ich begann mein Zelt abzubauen und nahm mich dem so wichtigen Reissverschluss an, der sich nicht mehr richtig schliessen lässt. Aber alle Tricks fruchteten nichts. Das Teil scheint durch das häufige Verwenden einfach zu sehr abgenutzt und seine Halbwärtszeit erreicht zu haben. Deshalb machte ich mich auf die Suche nach Ersatzreissverschlüssen – und tatsächlich fand ich gleich zwei brauchbare, den einen von meiner alten Regenjacke, den zweiten an meiner Töffjacke, der als Verbindung zu meiner Töffhose dient. Zuerst galt es, die beiden Reissverschlüsse zu lösen, dann begann ich, in mühseliger Handarbeit die beiden Teile anzunähen.
Gegen Mittag nahm die Bewölkung zu, und o Wunder: Bald begann es zu regnen, ein deftiges Gewitter ging nieder, allerdings ohne Auswirkungen auf den Wasserstand des Flusses zu haben, der immer noch mehr Wasser zu verlieren scheint. Aber die noch viel zu schwachen Niederschläge reichen bei weitem nicht, uns wieder fahrtüchtig zu machen. Immerhin besteht die Hoffnung, dass es in den Anden stärker regnet, und der Wasserschwall unseren Ort morgen oder übermorgen erreicht.
Am Nachmittag montieren wir die Welle wieder ans Floss, um tatsächlich bereit zu sein, wenn nötig schon in der Nacht von hier abzuhauen. Aber die Hoffnung auf dieses Schicksal ist momentan klein. Es wird wohl ein Geduldsspiel geben. Wer gibt zuerst auf? Wir oder der Fluss?
Am Abend holte Sam einen weiteren Bagre aus dem Fluss. Wenigstens verpflegungstechnisch sind wir noch lange nicht am Anschlag. Am Nachmittag backte Sam drei perfekt gelungene Brötchen, die wir zusammen mit gekochten (nicht süssen) Bananen als späten Vesper verzehrten. Pünktlich zur Dämmerung startete die nächste Plage. Die Moskitos schafften es tatsächlich, durch meine Wintersocken hindurchzustechen, dabei wollte ich unbedingt auch noch den vierten Teil des Reissverschlusses annähen, aber die Plagegeister trieben mich ins Zelt – diese Arbeit muss bis morgen warten…
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Sa, 09.09.2017: Robinson
Schon den dritten Tag sind wir schiffsbrüchig, diese Definition passt ja zwar nicht exakt, aber tatsächlich sind wir gleichsam auf einer Insel gelandet, weitab von jeglicher Zivilisation. Wir sind wohl auch schon das Thema der versteckten umliegenden Kleinsiedlungen, und immer wieder erscheint ein Freitag, manchmal sind es Einzelpersonen, meist aber kleine Gruppen, die sich neugierig unserem seltsamen, gestrandeten Gefährt nähern. Heute erschien der gestrige Freitag, dem Sam eine Rolle Silch mitgegeben hatte und für die er uns ein Büschel Kochbananen versprochen hatte. Heute erschienen sie gleich zu dritt per Einbaum, tatsächlich mit einer Riesentrupple von grünen Bananen, die jetzt auf dem Floss aufgehängt sind.
Die Gefühlsschwankungen, die wir momentan durchleben, sind bei Robinson wohl nicht anders gewesen. Wir sind zufrieden, dass wir gesund und fit sind. Wir haben unser Haus schon mitgebracht und sind nicht gezwungen, zurück aufs Meer (oder den Fluss) zurückzukehren, um möglichst viel nützliches Material zu sichern, aber auch wir sind blockiert und warten auf die Rettung, aber (vorderhand) nicht ein anderes Schiff – genau eines ist heute flussaufwärts gefahren – sondern auf Hochwasser, das uns zurück auf den Fluss bringen soll. Und glücklicherweise sind die Kontakte mit den „wilden“ Einheimischen bis jetzt durchwegs positiv. Die meisten stehen einfach nur da und beobachten uns. Wenn wir sie mit der Hand begrüssen, realisieren wir, dass sie noch weniger Spanisch als wir sprechen. Heute ist zum ersten Mal auch eine Mädchengruppe erschienen, kam aber nie näher als dreissig Meter zum Boot. Natürlich wissen wir, dass wir hier etwas ausgesetzt sind. Es wäre ein Leichtes, uns auszunehmen. Wir sind Hunderte von Kilometern von der nächsten Polizeistation entfernt und auf das Wohlwollen der Einheimischen angewiesen, die sich bis jetzt mehrheitlich sehr schüchtern, aber sehr freundlich verhalten.
Noch ist uns keinesfalls langweilig. Und der Morgen begann prima, denn schon gestern fing Sam einen weiteren, diesmal etwas kleineren Bagre, der die Nacht im Kessel aber nicht überlebte und somit sofort auf den Grill geworfen wurde. Was für ein herrliches Frühstück, und was für ein zartes Fleisch – und wie lecker gewürzt mit viel Knoblauch!
Ich brachte heute Morgen meine Näharbeiten zu Ende, nähte auch noch den vierten Teil des Reissverschlusses ans Zelt an. Dieses hatte sich schon gestern von meiner Töffjacke entfernt, wodurch ein grosses Loch im Futter entstanden ist, sodass ich dieses ebenfalls wieder schliessen musste. Sam war bald unterwegs, unsere Holzvorräte aufzustocken und lange beschäftigt, die grossen Teile zu zersägen und mit der Machete zu zerkleinern. Er stellte zwei hölzerne Ersatzlager her, die wir hoffentlich auf der weiteren Fahrt nie benötigen werden. Überhaupt stellt sich die Frage, wie das gestern montierte Holzlager sich mit dem Motor der Yamaha verträgt, denn die Welle läuft durch ein Kugellager als durch ein Holzstück. Hoffentlich wird die Belastung des Motors nicht zu gross sein.
Ein riesiges Ärgernis waren den ganzen Tag die Horden von verschiedenartigen Sandfliegen, die man nie bemerkt, wenn sie landen (ausser man sieht sie – dann sind sie aber überaus flink und schnell wieder weg), aber einen eigentümlichen Juckreiz auslösen, wenn sie zustechen. Dann sind sie zwar schnell und problemlos erschlagen, aber den Juckreiz behält man für einige Tage. Und mittlerweile bin ich dutzendfach, wenn nicht hundertfach verstochen. Wenn man mit Kratzen beginnt, fliesst schnell Blut, weshalb man damit gar nicht erst anfangen sollte. In der Nacht ist dies beinahe nicht zu schaffen, weil man auf den juckenden Stellen liegt.
Am Nachmittag begann ich mit einer Arbeit, über deren Sinn man sich streiten kann. Ich begann, mit meiner kirgisisch-chinesischen Pfanne (ein billiges 2-$-Produkt, das sich schon so lange bewährt hat), Sand zwischen den Auslegern herauszuschaufeln. Dieser liegt hier besonders hoch. Später grub ich auch am Ende des Flosses weitere Löcher, die so gross werden sollen, dass eine Rinne entsteht. Auf der Talseite des Flosses wächst mittlerweile ein Sandberg, der uns als Damm dienen soll, wenn das Wasser dann endlich wieder kommt. Heute wurde übrigens der tiefste Wasserstand erreicht. Im Verlaufe des Nachmittags begann der Pegel wieder ganz leicht anzusteigen. Aber wir vermissen den Regen, es war schwülwarm heute im peruanischen Dschungel, und wir hoffen, dass die vorbeiziehenden Wolken in den Anden viel Wasser gelassen haben.
Der Tag endet jeweils während der Dämmerung, wenn die Luft zu schwirren beginnt und ein Grossangriff der Moskitos erfolgt, und von diesen Biestern möchte ich mich keinesfalls stechen lassen, deshalb ist der frühe Gang ins Zelt angesagt. Heute liessen es auch die beiden „neuen“ Reissverschlüsse zu, das Zelt schnell moskitosicher zu schliessen. Jetzt werde ich noch etwas lesen, aber sämtliche mit Strom betriebene Geräte werden bald den Geist aufgeben, weil wir hier keinen Zugang zu Strom haben, ausser über unsere eigenen Motoren. Deshalb wird dies wohl der letzte Tagebucheintrag sein, den ich direkt digital schreiben kann.
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So, 10.09.2017: Warten als Tugend oder wie eine Auszeit im Kloster
Noch hat mein Handy Strom, und deshalb kann ich ersehen, dass heute Sonntag ist. Und am Sonntag sollte man ja ruhen. Aber dies würde hier wohl auch für einen Werktag gelten. Denn die vermeintlich wichtigen Arbeiten gehen uns allmählich aus. Eigentlich wären wir längst wieder startklar.
Es ist Mittag, brütend heiss. Eben war ich im braunen, träge vor sich hin schleichenden Fluss, um mich etwas zu erfrischen. Ich habe gleich noch zwei T-Shirts und meine Bade-Shorts mitgenommen und ausgewaschen. Letztere hat typisch tropisch-feucht zu stinken begonnen. Wehret den Anfängen!
Am schlimmsten erscheint mir unsere Blockade immer am Morgen, wenn es heisst zu planen, was heute zu erledigen ist. Auch ich bin ein Mensch, der sich gerne verplant, auch während des Reisens, wie in den vergangenen Monaten erlebt. Aber jetzt stecken wir fest, im wahrsten Sinne des Wortes. Natürlich ist es schön zu beobachten, wie sich zwanzig verschiedenartige, in ihrer Buntheit kaum zu übertreffende Schmetterlinge immer an denselben Stellen im Sand niedersetzen. Man findet Zeit, dem Grund für dieses Verhalten nachzugehen, ohne aber die Begründung dessen auch wirklich zu erhalten. Es ist schon hart mitanzusehen, wie nur fünfzig Meter entfernt das Wasser des Rio Napo friedlich und in gemächlichem Tempo dahinfliesst. Wie gerne würde ich mich diesem Strom wieder anschliessen!
Wir sind gezwungen, die Tugend des Wartens, des Verharrens, des Nichtstuns zu lernen. Aber ist dies wirklich ein Zwang? Es soll ja Manager und ausgebrannte, dem Stress verfallene Menschen geben, die sich für viel Geld eine Auszeit im Kloster gönnen, um einmal etwas zur Ruhe zu kommen oder ein Burnout zu kurieren. Vielleicht brauchen genau dies auch wir einmal, und wir brauchen dafür nicht einmal etwas zu bezahlen. Aber in dieser Zeit drinzustecken kann wahrlich hart sein, vor allem dann, wenn man nicht genau weiss, wie lange diese Auszeit dauern wird und vor allem wie und ob wir hier wieder wegkommen.
Heute Morgen versüsste auch kein weiterer gefangener Fisch unseren frühen Sonntagsbrunch, dafür begann ich bald, Kochbananen zu fritieren. Der beigegebene Zucker sorgte für ein feines caramelisiertes Aroma. Mit einem Ei wurden die Resten der Nudeln von gestern aufgekocht. Schliesslich landeten kleine Teigklümpchen auf dem Grill, diesmal verfeinert mit weiteren Kochbananen, deren verschiedene Gebrauchsarten ich gerade am Ausprobieren bin.
Sam lag bald in seiner Hängematte und las, ich verzog mich ins vor Sandfliegen sichere Zelt und las endlich den dritten Band der „Chroniken von Thomas Covenant, Die letzte Walstatt“ zu Ende. Am Nachmittag suchte ich den nahen Wald auf, um weitere Zweige unseres vor Tagen gefällten Baumes mitzunehmen, aus denen ich begann, Schachfiguren zu schnitzen. Aber die unzähligen lästigen Sandfliegen liessen mich nicht in Ruhe arbeiten. Ich wurde heute wohl hundertfach verstochen. Die Schachfiguren wurden jedoch gleichwohl fertig. Sam hatte unterdessen in seinem Kofferdeckel ein Schachbrett vorbereitet, aber die Zeit war zu sehr fortgeschritten, um bereits eine erste Partie zu spielen.
Stattdessen begannen wir zu kochen, Bratkartoffeln mit Kochbananen, gewürzt mit Zwiebel – die Menus werden einfacher…
Am Abend erhielten wir Besuch von einem angenehmen, freundlichen Einheimischen mit seinen drei Söhnen, der sich für unser Floss interessierte und uns immerhin etwas Hoffnung machen konnte, als er meinte, es sei normal, dass der Flusspegel derart unterschiedlich sei. In kurzer Zeit könne sich der jetzige tiefe Stand aber auch wieder ändern.
Es ist noch nicht sieben Uhr, ich liege im Zelt, das mich vor den momentan aggressiven Moskitos schützt. Die Gretchenfrage bleibt: Wann (und wie) kommen wir von hier weg?
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Mo, 11.09.2017: Fitzgeralds Idee des Wahnsinns
Schon bei der Morgendämmerung war ich hellwach und zermarterte mir den Kopf, wie wir uns von der Wetterabhängigkeit lösen und unser Schicksal selber aktiv bestimmen können. Ich erinnerte mich an die Geschichte Fitzgeralds, der ebenfall im Dschungel Perus versuchte, mit Hilfe von Eingeborenen, also viel Manneskraft, sein Schiff über einen Bergrücken eines Nebenflusses des Amazonas zu transportieren.
Der Weg, den wir bis zum Fluss zurückzulegen hätten, ist vergleichsweise kurz und viel einfacher. Ich kann mich erinnern, dass in der Verfilmung Rundhölzer verwendet wurden, um das Schiff zu bewegen. Sollte ich mich heute an die Arbeit machen und beginnen, unser Floss auszugraben, mit Holztremeln zu bestücken und nachher mit der baren Kraft von Männern zu versuchen, unser Boot Stück für Stück gegen den Fluss zu schieben?
Sam ist momentan noch gegen diese Idee und meint, wir sollten noch etwas länger ausharren und auf den Tag des nächsten Hochwassers warten. Davon sind wir momentan jedoch weit entfernt, denn heute sank der Pegel um ein weiteres Stück.
Statt Erd- oder Sandbewegungen vorzunehmen, weihten wir das gestern gebastelte Schach ein, spielten zwei Partien (1:1) – ein guter Zeitvertreib. Am Nachmittag wurde die drückende Hitze schier unerträglich, bis sich aus Nordosten ein Gewitter zusammenzog. Die damit verbundenen Böen waren zwar heftig, aber doch nicht genügend stark, um uns zum Fluss zu blasen. Der Regen war nur ein kurzer Segen, der wenigstens etwas Abkühlung brachte, aber bei weitem nicht genug Wasser, um uns aus der Patsche zu helfen.
Gegen Abend kam Sam einmal mehr erfolgreich von seinen gesteckten Angelhaken zurück. Der mittelgrosse Wels (bagre) war zwar etwas verwurmt. Deshalb wurde er umso genauer ausgenommen und etwas länger auf dem Grill gelassen. Hervorragender Znacht, der nach gar keinem Gemüse verlangt, das uns unterdessen ausgegangen ist.
Auch heute wurden wir besucht von neugierigen Einheimischen, der Nachmittagsbesuch eines ziemlich betrunkenen Jünglings war eher unangenehm und etwas beklemmend. Die überaus sympathische Familie, die sich am Abend für uns interessierte, war nicht nur gut Spanisch sprechend, sondern auch überaus freundlich und angenehm. Es zeigte sich, dass es kein Problem wäre, das billige ecuadorianische Benzin hier zu verkaufen. Vielleicht werden wir darauf zurückkommen, wenn uns irgendwann die Lebensmittel ausgehen.
Wiederum verschwanden wir schon um halb sieben Uhr in unseren Zelten. Der peruanische Tropendschungel musiziert vom Feinsten. Gerne würde ich nur einige dieser Tiere kennen lernen, die dieses zauberhafte Konzert veranstalten.
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Di, 12.09.2017: Betrachtungen zur Lage der Nation
Es ist Mittag. Ich sitze zum ersten Mal seit einer Woche auf dem Mast und versuche mir ein Bild unserer Lage zu machen.
Der Sand um unser Floss trocknet allmählich ab, ich sehe darin viele Spuren, die meisten sind von uns. Die verhängnisvollste Spur ist wohl die erste, als wir im nahen Wald nach jenem Hartholz Ausschau hielten, das wir später als hölzerne Ersatzlager für unseren Antrieb verwenden wollten und wodurch wir wohl genau jene entscheidende Zeit verloren haben, dass wir hier seit einer Woche gefangen sind.
Der schmaler gewordene Fluss, dreissig Meter entfernt, schleicht gemächlich dahin, wir kämen ohne Motor nicht schnell vorwärts, aber würde mich dies kümmern? Auch heute zieht sich im Nordosten ein Hitzegewitter zusammen, dessen Regengüsse wohl nicht reichen werden, dass es endlich zu einer neuen Flut kommt. Unter mir stecken im Sand die aus dem Wald besorgten zwei mal zwei Rohrhölzer, an Seilen befestigt, die uns im Seitenarm des Nebenflusses halten sollen, wenn das Wasser morgen oder in einer Woche oder gar einem Monat tatsächlich wieder ansteigt. Auf diesem jetzt vollkommen ausgetrockneten Gewässer liess sich auch leicht den Hauptfluss erreichen, falls unser Motor (der ja zuerst ausprobiert werden müsste) sich nicht als genügend stark herausstellt.
Es stecken einige Hölzer als Markierungen im Sand, entweder um einen Angelhaken zu sichern – oder dann sind es Stellen, an denen sich der Rand des Flusses einmal befand. Der erste Stab steht drei Meter vom Bug des Flosses entfernt. Der Wasserstand an den liebevoll, mit einem Filzstift gesetzten Markierungen war nie höher als bei 0 cm, dabei hat sich Sam die Mühe gemacht, sie bis auf 70 cm einzuzeichnen. Schon nach weniger als einem Tag stak der Dünnpfahl vom Wasser verlassen einsam im Sand. Nur mehr ein Mahnmal…
Sam ist eindeutig der Jäger unseres Teams. Regelmässig macht er einen Rundgang und kontrolliert, ob ein Wels gebissen hat. Dies war auch heute Morgen der Fall, aber er war zu spät, mehr als die Hälfte des Fisches war schon von anderen Flussräubern verzehrt worden. Unterdessen interessieren sich fast jeden Morgen Geier für uns (?), auf jeden Fall erscheinen sie immer dann im Sand, wenn wir am Grillieren eines Fisches sind, in der Hoffnung, etwas von den Fischabfällen abzubekommen. Ich gehe nicht davon aus, dass die Tiere darauf warten, dass wir selber zu Opfern werden… Vielleicht freuen sie sich aber einfach nur über die Morgensonne, um ihr über Nacht feucht gewordenes Federkleid zu trocknen und zu wärmen.
Heute Morgen hat Sam eine klassische Vogelfalle mit Falltür gebastelt, die jetzt mit jenem halben Fisch von heute Morgen scharf gemacht wurde. Genau heute glänzen die Vögel jedoch durch Abwesenheit, dabei denken wir, dass Geier ja vergammelten Fisch lieben – aber das kommt schon noch…
Wo eigentlich der Einfluss des Seitenarms ist, liegen im Sand drei vermoderte Baumstrünke, die wir bei der Einfahrt noch locker überfahren haben. Einen davon wollte ich einmal als Flosssicherungsanker gebrauchen, aber diese Holzdinger sind definitiv zu morsch, um nur etwas Sicherheit oder Standfestigkeit zu bieten.
Auch heute liegen an den Gestaden des Seitenarms drei Rinder (!), der schwarze Stier hat Hörner und scheint definitiv der Chef der drei zu sein. Schon seit Tagen verweilen sie immer an derselben Stelle, blicken sehr oft in unsere Richtung, als ob der Spass hier stattfindet. Wenn Kühe lachen könnten, würden die drei wohl vor Bauchweh sterben (und uns als Steakspender dienen)…
Vom Wasser des Seitenarms im Osten ist nur noch ein Weiher mit überraschend klarem Wasser übrig geblieben. Der Plan war es auch einmal, vorbei an den aus dem Wasser ragenden Hölzern einen Fluchtweg zu finden, aber auch dafür waren wir zu spät.
Von hier oben sehe ich im Süden die Fortsetzung des Rio Napo, der silbern glänzend eine unendliche Ruhe ausstrahlt, an der jetzt auch wir teilhaben (müssen). Ich sehe jene Büsche, an denen sich unser Floss leicht hätte anbinden lassen, um am nächsten Morgen problemlos wieder wegzukommen. Ich befinde mich fast zehn Meter über dem Floss, hier oben habe ich meine Ruhe vor den Sandfliegen, von deren Stichen vor allem meine Beine und der Rücken dutzendfach übersät sind. Gestern erst begann ich dagegen erstmals Sams „Moskito Repellent“ zu benutzen, und ich musste tatsächlich feststellen, dass er doch etwas nützt.
Auch heute Morgen bekamen wir Besuch von einer Familie einer nahen Siedlung. Der Mann brachte ein lebendes Huhn mit und wollte dafür drei Gallonen Benzin haben. Hier kennt man offenbar nur Tauschhandel. Wir kamen tatsächlich ins Geschäft. An einem Bein ist es jetzt mit einem dünnen Seil angebunden, hat gleich begonnen, sich an unseren gestrigen Fischabfällen gütlich zu tun und sich unterdessen unter das schattige Floss verzogen, um dort seine letzten Lebensstunden zu verbringen.
Nach einem zweiten, diesmal klaren Sieg im Schach kochte ich eine wohl gelungene Rösti, dann bastelte ich an einem Wind- und Regenschutz, denn wenn ein Regensturm die Front unseres Flosses trifft, möchte ich verhindern, dass der waagrecht daherpeitschende Niederschlag das Innere meines Häuschen befeuchtet. Gegen Abend setzte tatsächlich Regen ein, der sich ein bisschen anhört wie Landregen. Vielleicht kommt jetzt die entscheidende Wassermenge vom Himmel.
Unser Huhn hat es sich unter dem Floss bequem gemacht gemacht. Es tut etwas weh, dass seine Stunden auf dieser Welt gezählt sind.
Km: 81‘590 (0)
Mi, 13.09.2017: Schicksal eines Huhns
Zwei Chancen hätte heute Morgen unser Huhn unter unserem Floss gehabt, einen weiteren Tag zu überleben. Entweder hätte einer der heute wieder um die gestellte Falle schleichenden Geier, welche die gestern gelegten Fischabfälle nur zu gut witterten, in die Falle tappen müssen – oder das Wasser des Flusses hätte dermassen ansteigen müssen, dass wir genug zu tun gehabt hätten, möglichst schnell von hier wegzukommen. Aber weder die eine noch die andere Chance wurde vom Huhn genutzt, auch wenn schon klar ist, dass die beiden Chancen nicht wirklich fair waren.
Aber ich fieberte in der Nacht mit dem Tier mit und hätte ihm noch so gerne weitere Lebenstage gegönnt, auch wenn das mit einer artgerechten Haltung auf einem Floss auch nicht leicht umzusetzen gewesen wäre. Aber ich litt dennoch mit der armen Kreatur mit, weil ich mitverantwortlich sein sollte, dass es heute sein Leben verliert. Dies sind dann Momente, während denen man die Haltung eines Vegetariers durchaus verstehen kann und mit barer Vernunft eigentlich selber umsetzen müsste, denn wer gibt einem das Recht, einem anderen Lebewesen das Leben zu nehmen und es gar zu essen? Das Gegenargument ist klar: Ich finde Fleisch, vor allem als Abwechslung genossen, einfach zu schmackhaft und lecker, um darauf zu verzichten. Aber es wäre wohl gut, wenn sich jeder Fleischesser eine Fleischlizenz holen müsste, deren Prüfung etwa so abläuft wie die im Folgenden beschriebenen Erlebnisse.
Das Huhn hatte sich unter dem Floss ordentlich bewegt, natürlich in ziemlich chaotischer Weise, sodass das Seil immer kürzer und der Bewegungsradius des Tiers kleiner wurde. So war es nicht leicht, das Tier hervorzukriegen. Als es dann an der Sonne stand, ging es schnell. Die Machete war zur Hand, das Huhn legte seinen Hals typischerweise schön brav auf das Holzscheit, ein Schlag, und der Kopf war weg. Es ist auch normal, dass jetzt der Hühnerkörper verrückt spielt und wie aus letztem Protest davonzufliegen versucht – offenbar nerven die Nerven, aber darauf waren wir vorbereitet. Es wurde in meinen leeren, schwarzen Töffkoffer gesteckt, bis sich nichts mehr bewegte und der definitive Tod eingetreten war.
Unterdessen war ich schon unterwegs zum Fluss und begann dort im Wasser mit der wenig angenehmen Prozedur des Entfederns. Eigentlich ginge dies besser, wenn man den Körper kurz in kochendes Wasser taucht, aber ich verzichtete darauf. Danach galt es, das Huhn auszunehmen, möglichst Darm und Magen nicht zu verletzen und die schmackhaften Teile der Innereien wie Herz, Niere und vor allem Leber beiseite zu legen. Gemeinsam schafften wir diese Arbeiten ganz gut, obwohl wir dies beide noch nie gemacht hatten.
Schon früher hatte ich ein Feuer vorbereitet, sodass die Glut genau jetzt perfekt war. Das Huhn, das jetzt wie ein Poulet aussah, allerdings ein etwas dünnes, wurde gewürzt, die letzte Ölung wurde verabreicht. Als Vorspeise gab es gezwiebelte Innereien, hervorragend. Die Erfahrung aus vielen Schullagern konnte ich jetzt anwenden. Das ganze Poulet wurde jetzt auf einen Holzspiess mit einer Astgabelung in der Mitte gesteckt, die verhindern soll, dass es sich über der Glut unkontrolliert dreht.
Das Poulet war so dünn, dass es kaum eine Stunde ging, bis es gar war. Unterdessen fand ich Zeit, den Teig für ein Bananenbrot vorzubereiten. Ich fügte zum Mehl acht kleine, fein gehackte Kochbananen bei (natürlich mit genügend Salz und Trockenhefe). Die Bananen gaben so viel Feuchtigkeit ab, dass ich nur wenig Wasser beimischen musste, sodass bald ein feiner, gelblicher Brotteig entstand. Ein Teil kam gleich auf den Grill und war die perfekte Beilage für unser erstes Fleischmahl auf diesem Trip. Das Fleisch schmeckte ultrabio, war ziemlich fest – es handelte sich wohl nicht mehr um das jüngste Tier – „Gummiadler“ kam mir unverzüglich in den Sinn, aber dies hat bestimmt nichts mit meiner Kochkunst zu tun. Wir wurden aber beide trotzdem bestens satt, waren jetzt im Besitze neuer Köder für den Fischfang – und dies funktionierte bestens. Bis zum Abend bissen gleich zwei Welse an, die jetzt in Sams Riesenkoffer schwimmen und uns morgen als perfektes Frühstück dienen werden.
Auch heute erhielten wir Besuch von einer einheimischen Familie – wiederum ein sehr netter Kontakt, aber Petrol konnten wir zum Verkauf nicht anbieten. Die normale Tageshitze wurde unterbrochen durch zwei Wärmegewitter, die uns etwas Abkühlung zu verschaffen vermochten, vor allem aber die lästigen Sandfliegen vertrieben.
Jetzt liege ich erneut früh im Zelt. Wiederum ertönt wie schon seit Tagen derselbe quakartige Ruf aus dem Wald. Dieses Tier scheint nimmer müde zu werden. Das Dschungelkonzert ist aber vielfältiger als ein Symphonieorchester. Der Wald lebt, wir auch – noch sind wir ganz zufrieden…
Km: 81‘590 (0)
Do, 14.09.2017: Ertragen oder Geniessen?
Die Umstände könnten trister sein. Die Sonne scheint, der Sandstrand wird jeden Tag grösser, das Wasser hat um die 26°C und eignet sich bestens für eine leichte Abkühlung, eigentlich beste Voraussetzungen, Zeit, Natur und die so lange schmerzlich vermisste Wärme zu geniessen.
Aber es ist doch nicht ganz einfach, mich voll und ganz der durchaus sehenswerten Dschungel-Szenerie zu ergötzen, denn es nagen doch einige schwere Unsicherheiten am unbeschwerten Geniessen dieses wirklich speziellen Abenteuers.
Die beiden Fische, die wir gestern noch quicklebendig in Sams 80-Liter-Koffer gesetzt hatten, überstanden die Nacht nicht lebend – Sauerstoffmangel? Sie wurden jetzt am Fluss schnell ausgenommen und lagen schon bald exquisit gewürzt auf dem Grill für ein deftiges Frühstück.
Ich beobachtete lange die beiden Geier, die sich rund um die gestellte Falle über unsere Köder hermachten. Sie waren kaum zwanzig Meter von uns entfernt, aber überaus wachsam und vorsichtig. Es soll ja sehr intelligente Vögel geben, und Geier scheinen dazuzugehören (wie auch wir;-). Der Eingang der Falle wurde um keinen Zentimeter überschritten, obwohl die besten Stücke im Innern der Rohrsteckenfalle lagen und mit einem Mechanismus versehen sind, dass sich die Falltür schliesst, wenn diese Leckerbissen berührt werden. Also kein Glück und kein Geierfrass!
Sam beschäftigte sich mit einigen Mechaniker-Arbeiten an seinem Töff, während ich vorerst dem Nichtstun frönte und im Schatten auf dem Führersitz unseres Flosses lag. Wir hatten den Eindruck, dass sich das Wetter heute etwas verändert hatte, denn mit der Morgendämmerung kam ein Sturm auf, es begann jedoch nicht zu regnen. Es blieb lange bedeckt, aber im Laufe des Morgens verzogen sich die Wolken, es wurde gewohnt drückend heiss. Ich beschäftigte mich mit dem Besorgen weiteren Brennholzes, beobachtete lange Zeit einige kunstvoll farbige Schmetterlinge im Sand, bevor ich einen neuen Brotteig vorbereitete, diesmal mit Bananen und frischen Kokosschnipseln. Sam stellte hierfür eigens ein Raffelinstrument her aus einem Stück Hartholz und einem darauf geschraubten Bierdeckel. Die Rafflerei funktionierte wirklich einwandfrei.
Am Nachmittag spielten wir zwei Schach, eine ideale Beschäftigung, Zeit verstreichen zu lassen. Fische fingen wir keine mehr. Wir verkochten unsere letzte Tomate, zusammen mit Oliven, noch sind die Vorräte und Zutaten einigermassen vielfältig, weshalb das Pasta-Menu wunderbar gelang.
Es geht uns nach wie vor bestens, wir sind gesund und satt, eigentlich beste Voraussetzungen, unseren momentanen Aufenthaltsort zu geniessen, und doch macht uns der Fluss schon einige Sorgen. Wenn der Sandstrand grösser wird, zieht sich der Fluss zurück, auch heute wieder um zwei Meter. Momentan sind wir weit davon entfernt, von hier wegzukommen, und dies wäre doch wirklich mein Hauptwunsch. Wie lange werden wir hier nur gefangen bleiben?
Km: 81‘590 (0)
Fr, 15.09.2017: Cangrejo und Orangen
Als ich im Dämmerlicht aufwachte und meine 56-jährigen Glieder bewegte (die schon wesentlich runder liefen, wie ich jeden Morgen bemerke), und aus meinem Moskitonetz einen ersten Blick auf die uns umgebende Wüste warf, schienen die Wettergötter des Dschungels die letzten Tropfen des Flusses dazu verwendet zu haben, Wald und Fluss unter einen grauen Schleier zu legen. Tatsächlich sah man kaum bis zum Fluss, dessen Pegel über Nacht noch einmal gefallen schien.
Immer am Morgen stelle ich diese Unternehmung am meisten in Frage. Weil ich so lange schlafe, erinnere ich mich an übermässig viele Träume, die sich momentan fast nur über mein Zuhause drehen, das gerade jetzt weiter denn je entfernt ist.
Aber noch habe ich genügend ecuadorianischen Kaffee, der mich jeweils relativ schnell in die Gänge bringt. Ich versuche aus dem gemahlenen Kaffeepulver möglichst viele Aromastoffe herauszuholen, indem ich es ins kochende Wasser schütte, das dann bereits leicht abgekühlt nochmals aufs Feuer kommt, sodass das Kaffeewasser sofort zu brodeln beginnt und wie glühende Lava aus dem Krater schiessen will. Den Vulkan kann ich jedoch beeinflussen, indem ich das Kaffeepfännchen sofort vom Feuer reisse und hinstelle, bis sich das Pulver gesetzt hat und der fast reine Kaffee genossen werden kann.
Recht früh am Morgen bekamen wir schon Besuch von einer weiteren Familie, die sich natürlich auch über unser Schicksal amüsierte. Dieser Kontakt war besonders angenehm, weil uns frische Orangen und Süssbananen angeboten wurden. Deshalb begleitete Sam die Familie in ihrem kleinen Boot in das vermeintliche Dorf Samuna bestimmt drei Kilometer flussaufwärts. Aber da war nichts von einem Dorf mit 400 Einwohnern. Wir erfuhren, dass es sich um eine Comunidad, eine Gemeinde handelt, deren Häuser und Familien zehn Kilometer flussauf- und abwärts verstreut sind. Nach über einer Stunde kehrten Sam und die ganze Familie zurück, mit einem Sack Orangen, aber leider ohne Eier. Bezahlt wurde natürlich mit Benzin.
In derselben Zeit legte unweit unseres Flosses auf unserer Sandbank ein Hausboot an, das im Schneckentempo flussaufwärts unterwegs war. Es handelte sich offenbar um ein Versorgungsschiff, über das die verstreuten Einheimischen zu den wichtigsten Lebensmitteln kommen. Zu spät kam mir in den Sinn, dass ich Bier hätte kaufen können.
Vom Vater der Familie erfuhr Sam, dass der Fluss reich an Flusskrebsen (Cangrejos) ist. Und dies brachte ihn auf den Plan, eine zwei mal ein Meter grosse Reuse zu basteln. Zuerst machte er aber einen Rundgang zu unseren gelegten Fischerhaken. Der Zufall wollte es, dass an einem der Hühnerfussköder eine grosse Krabbe hing, aber nicht etwa am Haken, sondern vielmehr wollte sich das Tier die Hühnerfussdelikatesse nicht mehr wegnehmen lassen. Peruanische Krabben müssen Chinesen sein…
Deshalb schaffte es Sam, das sture Tier bis fast ans Ufer zu schleppen. Die letzten drei Meter behalf er sich eines Steckens, bis der 20-cm-Krebs im Sand lag. Ich war unterdessen mit einem Kessel angerückt, und da lag sie jetzt gefangen. Habgier hat manchmal ihre Tücken… Dieses Erlebnis ermunterte Sam noch mehr, sofort mit dem Bau der Reuse zu beginnen, derweil ich aus denselben aus dem Wald geholten Rohrstecken eine Halterung an der Decke meiner Hütte bastelte, in der die scheinbar etwas unreifen Orangen noch etwas nachreifen können.
Von unseren Besuchern erfuhren wir auch, dass es normal ist, dass der Pegel des Flusses dermassen unterschiedlich sein kann. Wir befinden uns am Ende der Trockenzeit, die im Moment gerade ziemlich extrem durchschlägt. Der Grossvater der Besucher meinte, dass das nächste Hochwasser wohl innerhalb einer Woche heranrauschen werde – wenn’s dann wirklich so kommt…
Aber was bedeutet hier Zeit, die im Überfluss vorhanden ist? Unsere Kultur ist wohl degeneriert, in der nur Produktivität verbunden mit grossem Stress zählt. Auch wenn aus dieser Woche ein Monat wird, ist dies wirklich entscheidend? Wir sind auch hier genug lebensfähig, erste Kontakte zu Einheimischen sind geknüpft, sodass wir hier bestimmt nicht verhungern müssen. Zudem lernen wir mit jedem weiteren Tag, uns in dieser Umgebung zurechtzufinden. Im Oktober beginnt in Ecuador die Regenzeit, also werden wir schon noch genug früh den Fluss hinuntergespült. Die Einheimischen haben sich längst an die Verhältnisse angepasst, brauchen für ihre Boote den Motor meist nur flussaufwärts, während sie sich abwärts treiben lassen.
Am Abend hatte auch die Flusskrabbe ihr Leben verwirkt und wurde ins heisse Wasser geworfen. Wir freuten uns an der Delikatesse, auch wenn sie uns nie satt machen konnte. Deshalb gab es zum ersten Mal Pasta an einer Bananensauce, eine etwas süsse Angelegenheit und etwas gewöhnungsbedürftig.
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Sa, 16.09.2017: Töff als Generator
Noch nutzen wir einige der technischen Geräte, deren Akkus wir während der letzten Fahrt über meine Yamaha geladen haben. Ein guter Zeitvertreib, vor allem nach der abendlichen Dämmerung, ist es zu lesen. Wenn man aber so lange unterwegs und der Platz beschränkt ist, bedient man sich der digitalen Mittel zu lesen, vor allem wenn man auf diese Weise Hunderte von Büchern, natürlich inklusive Reiseführern, dabeihaben kann. Mein Tolino-e-Reader ist bereits vor beinahe zwei Jahren ausgestiegen, weshalb ich seither über mein iPhone 6 lese. Zwar habe ich sämtliche stromfressenden Komponenten unterdessen deaktiviert, aber ein Leseabend frisst mir zehn bis zwanzig Prozent des Akkus, der unterdessen fast leer ist.
Deshalb war heute eine besondere Aktion angesagt. Sams Honda wurde nämlich reaktiviert. Er fuhr vom trocken gelegten Floss über ein Verbindungsbrett auf den Sandstrand und vor dort zum und ins Wasser. Wir wollten den Motor der Honda ebenfalls mit Wasser kühlen, mussten aber achtgeben, sie nicht im schier flüssigen Treibsand irreparabel zu versenken. Wir waren vorerst auf dem besten Weg dazu, brachten die Maschine aber mit Hängen und Würgen wieder aus dem Fluss, um sie danach rückwärts auf das fette, leider zerbrochene Brett zu schieben und sie auf den Zentralständer zu stellen. Wir mussten aber feststellen, dass die Wasserverdrängung durch das laufende Rad nicht genug gross war, um das Wasser über einen Schlauch bis zum Kühler zum Laufen zu bringen. Die etwas unsichere Übung wurde abgebrochen und die Maschine am Strand im Leergang laufen gelassen – ohne Kühlung. Leider produzierte die Honda zu wenig Strom, um auch die 110-Volt-Geräte wie Computer zu laden. Aber die wichtigsten Kleingeräte liessen sich bis zum Abend über USB tatsächlich laden. Ein Motorrad lässt sich also auch als Generator nutzen, auch wenn der Wirkungsgrad vom verbrannten Benzin bis zur Ladung der Geräte wohl miserabel ist. Und: Die Honda lief gute drei Stunden und zeigte keine Überhitzungserscheinungen.
Erst in der Dämmerung fuhr Sam seinen Töff zurück zum Floss, aber nicht mehr aufs Floss, diese Aktion wäre zu heikel gewesen, denn in der Zwischenzeit hatte er über eine halbe Flasche eines leicht alkoholhaltigen Süssgetränks intus. Ich blieb bei meinem chilenischen Wein, mit dem ich allmählich sparsam umgehen muss – die wichtigsten Lebensmittel gehen zur Neige… Sam war im gewohnt gesprächsseligen Zustand, wenn er etwas Alkohol gekriegt hat und war noch am Erzählen, als wir längst in unseren moskitosicheren Zelten lagen.
Die Wetterlage scheint sich allmählich zu verändern. Schon am Morgen regnete es zu unserer Freude wiederholt, sodass wir von Sams Plastikdach unsere Trinkwasservorräte wieder aufstocken konnten. Etwas staubiges Insekten-Regenwasser, meist leicht grünlich wohl wegen einer Urwaldalge verfärbt, ist bestimmt besser als Flusswasser, um es als Trinkwasser zu verwenden.
Gegen Abend setzte neuer Regen ein (dies ist für uns gutes Wetter!); allerdings sind noch keine Auswirkungen auf den Wasserstand des Rios festzustellen.
Wir verbrachten heute einen eher faulen Tag. Sam meinte immer wieder, dass er „faul“ sei, und deshalb mochte er auch nicht an seinen Kleinprojekten weiterarbeiten. Ich war aber nicht viel besser. Wir beobachteten lange die Geier und einen etwas viferen, unvorsichtigeren Vogel, die das Aas in der Falle witterten, aber einfach nicht in sie tappten. Auch fischtechnisch sind wir momentan wenig erfolgreich. Noch haben wir genügend Pasta: Spaghetti aglio-olio waren heute angesagt, Dessert Bananen…
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So, 17.09.2017: Rondom - grau
Es ist erst sechs Uhr abends, rondom graut’s, aber es ist kein Grauen für mich, sondern erfüllt mich mit Hoffnung. Wir befinden uns auf nur 1° südlicher Breite im tiefsten Dschungel, aber der immense Wald scheint klimaausgleichend zu wirken. Zwar kann es auf unserer Sandbank ordentlich heiss und schwül werden, wenn die Sonne gnadenlos vom Himmel brennt, aber seit gestern ist alles anders: Der Horizont verschmilzt mit der fahlen Waldfarbe, beide erscheinen in Grautönen. Eine kleine Front löst die nächste ab, sodass es immer wieder regnet, unsere Wasservorräte sind längst wieder alle nachgefüllt.
Nur etwas passt noch nicht zu den regelmässig fallenden Niederschlägen: Der Wasserpegel des Rio Napo, der sich momentan kaum verändert. Aber Grau erfreut momentan durchaus unsere Herzen, denn die Tendenz scheint zu steigen, dass es auch in den Anden regnet und uns das nächste Hochwasser bald bevorsteht.
Wir geniessen die deutlich kühleren Temperaturen. Heute frischte der Wind vor einem weiteren Schauer dermassen auf, dass ich gar den dünnen Pullover anziehen musste, um nicht zu frösteln, notabene im tropischen Urwald auf nicht einmal 200 m.ü.M.
Es ist ein idyllisch-angenehm-romantisches Gefühl, auf meiner Exped-Matte im Zelt zu liegen, den Tausenden auf mein (immer noch) dichtes Sperrholz-Dach prasselnden Regentropfen zu lauschen und mich auf die nächste lange Nacht vorzubereiten.
Wir waren auch heute nicht besonders aktiv, stockten am Morgen während einer Regenpause unsere Holzvorräte auf. Dann machte ich mich mit Machete bewaffnet auf einen Spaziergang in den nahen Dschungel, erreichte überraschend bald einen braun-grauen Tümpel, gefüllt mit viel vermodertem Holz, aber Caymane bekam ich keine zu Gesicht. Auf dem Rückweg fällte ich einen kleineren Baum, mit dessen Stamm ich eine neue Verbindung zur vorderen Plattform unseres Flosses schuf. In der Zeit war Sam am Schnitzen einer Gabel aus Bambus, die bereits am Abend beim erneuten Spaghetti-Essen zum Einsatz kam.
Momentan kämpfen wir etwas unglücklich mit dem Fischen. Das Jagdglück scheint uns verlassen zu haben, weshalb wir momentan von den Vorräten leben, allerdings nicht schlecht: Am Morgen backte ich Brot, später fritierte ich Bananen, ich bekam meinen Kaffee und mein Spiegelei. Wenn man den Tag auf diese Weise beginnen kann, ist die Welt durchaus in Ordnung.
Auch heute bekamen wir Besuch von einer kleinen Gruppe Einheimischer, die sich für unser Schicksal interessierte. Bald sollten wir in den Besitz von Papayas, frischen Eiern und einem speziellen einheimischen Gemüse kommen, natürlich wieder im Tausch gegen Benzin.
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Mo, 18.09.2017: Zwischen Hoffen und Bangen
Die teilweise intensiven Regengüsse während der Nacht, die erst gegen Morgen nachliessen, gaben uns Grund zur Hoffnung, dass der Pegel des Flusses endlich zu steigen beginnt. Aber das immer sonniger werdende Wetter während des Tages erhöhte das Bangen, auch wenn der Rio Napo jetzt langsam, aber kontinuierlich zu steigen begonnen hat. Ich habe Linien in den Sand gezeichnet, um das Grösserwerden des Flusses zu beobachten. Verschwunden ist im Laufe des Tages jener Ast, der seit einigen Tagen wie ein Mahnmal aus dem Wasser lugte, endlich versunken im undurchschaubaren, sedimentreichen Lebensnerv des Landes.
Natürlich beginnt man zu kalkulieren, wenn der Fluss steigt. Angenommen, es hat auch in den Anden intensiv geregnet, erreicht uns das grosse Hochwasser erst in einigen Tagen, wenn man annimmt, dass die Fliessgeschwindigkeit des Flusses etwa 5 km/h beträgt. Aber wer weiss schon, was sich in den Bergen zugetragen hat? Noch steigen die Wasser, noch habe ich jedoch die typischen, hellbraunen, schnell fliessenden Schaumkronen nicht gesehen, die ein Hochwasser ankündigen. Zu gerne sähe ich, dass der Fluss voller Schwemmholz ist, dass ganze Bäume in der Strömung mitschwimmen, denn dann wäre der Wasserstand bestimmt genug hoch, um von hier wegzukommen. Da wäre es dann egal, dass das Navigieren auf dem Fluss bei Hochwasserverhältnissen gefährlicher und keinesfalls einfacher ist.
Es wird sich wohl während der Nacht vorentscheiden, wie unser Schicksal für die nächsten Tage aussehen wird, ob wir wirklich die Riesenfreude der Weiterfahrt werden erleben können – oder ob wir weiterhin auf unbestimmte Zeit hier festgehalten werden.
Wir waren auch heute wenig aktiv, weil wir mit der morgigen Weiterfahrt liebäugeln. Ich las lange in Donaldsons Covenant Band 4, in dem momentan von einem Sonnenübel die Rede ist, welche das Land versengt – genau dies wollen wir auch hier nicht. Wir spielten ein weiteres Schach, das ich gewann.
Das viele Liegen und Sitzen verursacht mir immer mehr Rückenschmerzen, sodass ich mich entschloss, körperlich etwas zu arbeiten. Ich begann, mit meiner kirgisischen Pfanne (!), riesige Mengen von Sand auf der Rückseite des Flosses zu entfernen, in Fliessrichtung des Seitenarms des Flusses den Sandwall zu erhöhen, vor allem aber die vermutliche Richtung des Flosses, wenn es sich dann einmal bewegt, freizuschaufeln. Ich habe keine Ahnung, ob dies auch wirklich etwas bringt, aber ich bin von meiner Absicht im Gegensatz zu Sam doch einigermassen überzeugt, der mich in der Hängematte liegend alleine arbeiten liess. Ich denke einfach, dass sich der Sand jetzt leichter bewegen lässt, solange er noch trocken ist. Man wird dann sehen, ob meine Idee wirklich etwas gebracht hat. Ich hoffe einfach, dass wir nicht ein zweites Mal knapp scheitern, weil wir uns während der letzten Tage einfach zu wenig (ernsthaft) um die Idee des Ausgrabens gekümmert haben.
Seit das Wasser steigt, scheinen auch die lästigen Sandfliegen wiederzuerwachen, nachdem sie uns während zweier Tage nur noch wenig geplagt haben. Auch heute lebten wir von unseren Vorräten. Am Morgen besuchten gleich mehrere Vögel unsere Falle, die aber wegen des Regens während der Nacht nicht scharfgestellt war. Auch mit Fischen bleiben wir seit Tagen glücklos. Noch ist unsere Lage bezüglich Essen nicht bedrohlich, erneut gab es Teigwaren mit Knoblauch, diesmal sogar noch verfeinert mit ecuadorianischem Parmesan. Dazu fritiere ich immer am Morgen vier oder mehr längs halbierte Bananen, die uns zusammen mit dem gebackenen Brot über den Tag bringen. Aber das Gemüse ist längst aufgebraucht, unsere Vitamine holen wir uns über eine grüne Orange, deren Fruchtfleisch überaus frisch und durstlöschend ist, aber die Häutchen, welche das Fruchtfleisch zusammenhalten, sind so zäh, dass es eine ziemlich Prozedur ist, diese zu lösen und zum zarten Teil zu kommen. Aber an Zeit mangelt’s uns ja nicht.
Wiederum liege ich früh im Zelt. Ich hoffe, in der Nacht das Plätschern des Flusses zu vernehmen wie damals in der ersten Nacht, als wir hier nichts ahnend angelegt haben. Wird das Glückspendel auf unsere Seite ausschlagen?
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Di, 19.09.2017: Bubenspiele und Zweifel
Ich verbrachte eine äusserst unruhige Nacht, denn ich konnte es kaum erwarten, das Plätschern des Flusses, in der allerersten Nacht erlebt, zu hören – und wenn möglich schon in der Nacht von hier wegzukommen. Zweimal stand ich auf, um den Wasserstand zu kontrollieren. Ich stellte fest, dass der Wasserstand zwar weiterhin steigt, aber nicht im erhofften Tempo. Am Morgen fehlten noch immer geschätzte achtzig Zentimeter, um eine Chance zu haben wegzukommen. Die guten Neuigkeiten waren, dass der Fluss auch am Morgen noch am Steigen war, aber der Anstieg scheint sich allmählich zu verlangsamen.
Wiederum stärkten wir uns mit einem guten Frühstück mit frischem Brot und fritierten Bananen und Schokoladen-Brotaufstrich (!), dann war ich bald am Fluss, um genau zu beobachten, ob und in welcher Geschwindigkeit der Pegel noch steigt. Noch lag ein Baumstrunk ohne Wasserverbindung im Sand, aber ich sah, dass der Fluss schon durch den Sand drückte. Es war ein wunderbares Bubenspiel, zwischen Fluss und immer grösser werdenden See rund um den Strunk mit dem Fuss eine Wasserverbindung zu schaffen und zu sehen, wie sich der niedrigere Wasserspiegel beim Strunk demjenigen des Flusses anpasst. Dasselbe machte Sam bei einem etwas höher gelegenen anderen, im Sand steckenden Holzstück. Er legte aber Kurven an. Das Wasser im Miniflüsschen schien vorerst immer wieder zu versickern, bis es sich endlich einen Durchgang verschafft hatte. Im Kleinen konnte man beobachten, wie sich ein Fluss sein Gelände holt, Land untergräbt, bis es einstürzt, wie Inseln entstehen oder veritable Abbrüche den Fluss stauen, bis das Wasser genügend Energie entwickelt hat, um als Flutwelle das nächste Gelände zu überfluten.
Es war ein durchaus interessanter Tag zu beobachten, wie sich der Seitenarm, in den wir fälschlicherweise vor zwei Wochen gefahren waren, sich allmählich wieder mit Wasser füllt. Unterdessen führt ein untiefes Rinnsal quer über unsere Sandwüste, bis zu den kleinen Tümpeln im Nebenfluss. Und noch immer steigt der Fluss und holt sich Zentimeter um Zentimeter des verlorenen Landes zurück. Aber es lasten schwere Zweifel auf uns, denn wir sind mehr als unsicher, ob der Fluss noch genügend steigen wird, um uns aus der Patsche zu helfen. Noch immer fehlen wohl 60 cm, und der Pegel steigt einen Zentimeter pro Stunde. Natürlich hoffen wir weiter, dass die gefallenen Niederschläge, die vor zwei Tagen in den Anden gefallen sind, uns morgen erreichen und nochmals einen grossen Wasserschub bringen, aber die Zuversicht war schon grösser, dass wir tatsächlich bald wegkommen.
Stimmungsheber sind momentan vor allem die einfachen, aber sorgfältig zubereiteten Mahle – heute briet ich wieder einmal eine Rösti, aber Sam beginnt wieder intensiv von zu Hause zu träumen, und zwar nicht während der Nacht, sondern am Tag. Was werden wir nur tun, wenn der Wasserstand wieder zu sinken beginnt? Aufgeben oder endlich aktiv werden und à la Fitzgerald das Floss mit helfenden Einheimischen zu bewegen versuchen?
Ausserdem lief heute während fünf Stunden meine Yamaha, die diesmal als Stromlieferant und Generator diente. Weniger als drei Liter Benzin wurden verbraucht, und alle Geräte sind wieder brauchbar, auch die 110-Volt-Geräte, also auch mein Computer, sodass ich heute das Tagebuch wieder digital schreiben kann. Ich war sogar schon eine ganze Weile daran, die ersten handgeschriebenen Tage per Word nachzuschreiben, aber noch bin ich nicht fertig – dies mache ich dann, wenn wir wieder auf dem Fluss sind…
Je näher das Wasser an das Floss reicht, umso ärgerlicher und nerviger sind die Sandfliegen, die heute bei lästig strahlendem Wetter ihre alten Untaten fortsetzten. Es war überaus mühsam, Kartoffeln zu schälen und die Rösti vorzubereiten. Wiederum befinde ich mich auch heute früh im Zelt, wohl nicht gut für meinen Rücken, der mir vor allem am Morgen Beschwerden macht. Ich liege einfach zu lange herum – und dann noch auf einer Luftmatratze, ich sehne mich tatsächlich nach meinem Bett zu Hause, in dieser Hinsicht geht es mir nicht anders als Sam, und doch möchte ich keinesfalls aufgeben. Wiederum diskutierten wir über Lösungsansätze, aktiv unser Floss aus dem Schlammassel zu befreien – mittels unter das Floss gesetzten Palos, um es mit Hilfe von Einheimischen aus dem Sand zu rollen…
Km: 81‘590 (0)
Mi, 20.09.2017: Bagger und Lastwagen